Alte Grenze, alte Wunden

ERSCHIENEN IN DAS MAGAZIN 7/2019

Der Nordirlandkonflikt gilt als gelöst – und ist doch allgegenwärtig. Jetzt droht der Brexit das alte Feuer wieder zu schüren.

Ernie Wilsons Haus liegt zwischen grünen Hügeln im Südwesten Nordirlands. Der Geruch von frischem Gras liegt in der Luft, von hier ist es nicht weit bis nach Irland. Die lange Auffahrt zum Haus wird rechts von einer Schafherde gesäumt, ein Hund begrüsst jeden Eindringling mit lautem Gekläffe.

Wilson steht wie ein Fels in der Einfahrt. Er ist 83, und in diesen 83 Jahren hat er eigentlich zwei Leben gelebt: ein Leben vor und eins nach der Bombe. In seinem Wohnzimmer hängt ein Brief an der Wand, ein Glückwunsch zu seiner «British Empire Medal», persönlich unterschrieben von Queen Elizabeth II. Immer wieder möchten Menschen in diesem Wohnzimmer Wilsons Geschichte hören. Weil sich in seinem Leben so viel von jenem Konflikt spiegelt, der diese Region über Jahrzehnte erschüttert und bis heute geprägt hat.

Der Nordirlandkonflikt, dem zwischen 1969 und 1998 mehr als 3500 Menschen zum Opfer fielen, wird ausserhalb der Britischen Inseln als Fall für die Geschichtsbücher betrachtet. Er gilt als gelöst. Und doch ist er hier nach wie vor allgegenwärtig. Und der Brexit und die Gefahr einer geschlossenen Grenze zwischen Irland und Nordirland machen das Ganze jetzt noch einmal viel komplizierter. Wie ein Untoter schwelt der Konflikt, nördlich und südlich der Grenze, die im Moment eigentlich keine ist.

Ernie Wilson hat die blutigen Jahre durchlitten, wie alle Älteren in der Gegend. Er wird 1936 in eine protestantische Bauernfamilie mit neun Kindern hineingeboren. Mit achtzehn tritt er den BMen bei, einer polizeilich-militärischen Reserveeinheit. Es sind die 1950er-Jahre: The Troubles – wie der Nordirlandkonflikt in typisch britischem Understatement hier genannt wird – werfen ihre Schatten voraus. Nach einem Jahr wird Wilson in die Kleinstadt Lisnaskea versetzt, nicht weit davon wohnt er noch heute. In der ersten Nacht auf Patrouille trifft er ein Mädchen namens May. Ein Jahr später heiraten sie. Sie bekommen drei Kinder. Der jüngste Sohn, James, hat von Anfang an ein sehr enges Verhältnis zum Vater. «James war mein Lieblingskind», sagt Wilson.

Ernie Wilson ist ein einfacher, direkter Mann, der jeden Tag seines Lebens hinter dem Lenkrad sitzt. Erst fährt er Truppenfahrzeuge, später steuert er eine Weile Doppeldeckerbusse in Belfast. Mit Anfang vierzig kehrt er nach Lisnaskea zurück, weil er seine Familie vermisst. Wilson weiss von Dingen zu erzählen, die man sich heute kaum noch vorstellen kann. Von Kollegen, die durch den Briefschlitz ihres Hauses erschossen werden. Von Sprengfallen am Strassenrand, die nur durch einen glücklichen Zufall nicht explodieren.

Und davon, wie ihn einmal der Inspektor auf die Polizeistation bestellt: Auf dem Tisch stehen Tee und Kekse – ein Zeichen dafür, dass es ernst ist. «Ernie», sagt der Inspektor, «ich möchte, dass du mir gut zuhörst. Wir haben Informationen, dass du in den nächsten vierzehn Tagen erschossen werden sollst.» Was geht einem in einer solchen Situation durch den Sinn? «Ich bin nach Hause gefahren und hab mich ins Bett gelegt. Ich kannte solche Geschichten ja zur Genüge», antwortet Wilson. Es ist eine Zeit, in der das Unnormale normal wird.

Ernie Wilson fährt nebenbei den Schulbus, der die Kinder im Umland einsammelt und an der Schule abliefert. Er ist glücklich, verbringt viel Zeit mit seinem Jüngsten. «James hat immer auf mich aufgepasst», erzählt er. Bevor James seine Schicht beginnt, holt er mit dem Vater den Schulbus aus dem Depot. Darauf besteht er. Auch am 28. Juni 1988. James durchsucht den Bus, fährt ihn aus der Garage, übergibt die Schlüssel an seinen Vater. Es ist ein heisser Sommertag. Für gewöhnlich hat Wilson bis zu siebzig Kinder in seinem Bus, wegen der Prüfungswochen sind es an diesem Junitag nur rund zwanzig. Er beginnt seine Tour, sammelt Kinder auf. Das letzte Grüppchen im Zentrum von Lisnaskea, in der Nähe der Fabrik, in der sein Sohn James arbeitet. Ernie Wilson startet den Motor, fährt los. «Und plötzlich, gerade als ich in den zweiten Gang schalte: Bang!»

Was der Brexit für Nordirland bedeutet

Etwa fünfzehn Kilometer entfernt von Ernie Wilsons Haus fährt ein Geländewagen über die grünen Hügel Fermanaghs, des kleinsten der sechs nordirischen Countys. Hinter dem Steuer sitzt Eric Brown. Der Ex-Soldat mit dem grauen Bart ist Gründungsmitglied der South East Fermanagh Foundation (SEFF), einer Stiftung, die sich als Vertretung der unschuldigen Opfer der Troubles in der Umgebung versteht. Brown kennt das Gelände, das er die «killing fields von Fermanagh» nennt, wie seine Westentasche.

Er rast über die engen Strassen und durch die uneinsehbaren Kurven. Alle zehn Minuten bremst er abrupt ab, springt aus dem Auto und erzählt die blutige Geschichte zu den scheinbar idyllischen Orten: Bushaltestellen, an denen Zivilisten auf dem Weg zur Arbeit starben. Landstrassen, auf denen am Höhepunkt der Troubles jede Woche eine Bombe explodierte. Eine Kreuzung, an der die Leiche einer von der IRA hingerichteten «Verräterin» so abgelegt wurde, dass sie zur Hälfte auf der nordirischen und zur Hälfte auf der irischen Seite lag. Ein Albtraum, nicht nur diplomatischer Art. «Ihr wollt die Grenze sehen, oder?» Brown grinst. Er biegt in eine Landstrasse ein, die sich im Zickzack an Bäumen und kleinen Teichen entlang windet. Wasser spritzt am Wagen hoch, wenn er mit Tempo in eine matschige Pfütze fährt. «Jetzt sind wir in Irland. Jetzt in Nordirland. Jetzt wieder in Irland.» Brown macht das nicht zum ersten Mal, will Besuchern zeigen, wie absurd die Idee einer Grenze ist. «Das ist verdammter Bullshit», sagt er, Angstmache. Niemand will eine Grenze, niemand würde dadurch gewinnen. «Es wird keine Grenze geben.»

Ganz so sicher ist das nicht. Folgendes muss man wissen, um zu verstehen, warum die Spannungen innerhalb Irlands durch die Brexit-Verhandlungen wieder gestiegen sind: Das Karfreitagsabkommen von 1998 beendete den Nordirlandkonflikt mit einer politischen Lösung: Zwischen Irland und Nordirland verläuft seither eine «weiche», also durchlässige Grenze, die eine wirtschaftliche Einheit zulässt, zugleich aber die politische Trennung in zwei Staaten sichert.

Sollte das Vereinigte Königreich am 29. März 2019 mit einem «harten» Brexit die EU verlassen, hätte Nordirland über Nacht auch eine «harte» Grenze zu Irland: Waren müssten an der Grenze überprüft werden, es gäbe Passkontrollen – und Chaos. Fast tausend Polizeibeamte, berichtet der «Guardian», werden trainiert, um bei Problemen in Nordirland eingesetzt zu werden. Es ist paradox: Die Iren wollen keine harte Grenze, die Nordiren wollen sie nicht, die EU und Grossbritannien auch nicht. Und doch ist sie ein realistisches Szenario.

Im Dezember 2017 verständigten sich die EU und das Vereinigte Königreich deshalb darauf, dass es einen «Backstop» geben müsse: einen Sicherheitsmechanismus, der – auch für den Fall, dass die Verhandlungen scheitern – eine harte Grenze zwischen Irland und Nordirland verhindern soll. Der Backstop hat sich zum Dreh- und Angelpunkt des Brexit entwickelt: In dem «Withdrawal Agreement», auf das sich Theresa May und die EU im November einigten, ist das Grenzprotokoll, das im Fall der Fälle in Kraft treten soll, genau ausgeführt. Grob gesagt, beinhaltet die Vereinbarung folgende Regel: Sollte bis zum Ende der Übergangsperiode keine andere Lösung gefunden werden, verbleibt Grossbritannien in der Zollunion, Nordirland zusätzlich noch im Binnenmarkt, bis beide Seiten beschliessen, dass dies nicht mehr notwendig ist.

Diese Regelung wird in Nordirland unterschiedlich aufgenommen. Die unionistische, protestantische Partei DUP, Bündnispartnerin von Theresa Mays Tories im britischen Unterhaus, befürwortete den Brexit und lehnt jede Sonderbehandlung Nordirlands ab – aus Angst, diese könnte langfristig zu einer Wiedervereinigung mit Irland führen. Aus genau demselben Grund unterstützt die irisch-republikanische Partei Sinn Féin den Backstop. Ganz generell bereitet vielen Nordiren aber eine harte Grenze Unbehagen: Zu sehr wird sie mit der Gewalt der Vergangenheit assoziiert.

Ein gespaltenes Land

Die Frau, die für Nordirland in den Brexit-Verhandlungen mitmischt, ist DUP-Chefin Arlene Foster. Vor knapp dreissig Jahren sass die heute 48-Jährige, damals als Schülerin, in Ernie Wilsons Bus, als die Bombe der IRA explodierte. Es ist alles so eng und klein in Nordirland, dass sich manchmal die Geschichte hier auf einen kurzen Moment verdichtet. Ernie Wilson erzählt ruhig von dem Tag, der sein Leben verändert hat. «Für ein paar Zehntelsekunden wusste ich nicht, was passiert ist.» Er bleibt bei Bewusstsein. Aber er hört nichts, sieht nur verschwommen – immerhin, er spürt seine Beine.

Wilson versucht auf die Bremse zu treten, das Pedal ist weggesprengt. Nach fünf, sechs Metern kommt der Bus zum Stehen. Wilson dreht sich um. Der Boden ist herausgerissen, die Fenster sind fast vollständig zerschmettert, die Teenager im Bus schreien. Wilson schafft es, aufzustehen und die hintere Tür zu öffnen. «Ich habe die Kinder alle schnell rausbekommen.» Alle, bis auf Gillian Latimer. Das Mädchen sitzt am Fenster, als die Bombe explodiert, und erleidet schwere Wunden am Arm. Wilson bettet sie auf die Rückbank, beginnt mit Wiederbelebungsmassnahmen. Um den Bus haben sich mittlerweile Menschen gesammelt, sie brüllen ihn an, er solle das Mädchen hinausreichen. Wilson ignoriert sie. Er verlässt den Bus mit Gillian im Arm erst, als das Mädchen wieder atmet. «Alles, was ich sehen konnte, waren ihre grossen, weissen Augäpfel, die mir entgegenstarrten», sagt er. Alle Kinder überleben; Ernie Wilson trägt eine Kopfverletzung davon, und die verbrannte Haut hängt in Streifen an seinen Beinen herunter. Aber er lebt.

Die Geschichte des Nordirlandkonflikts ist im Groben schnell erzählt. Im Irish War of Independence erkämpfte sich Irland ab 1919 seine Unabhängigkeit vom Vereinigten Königreich – bis auf sechs Bezirke im Norden der Insel, die zu Nordirland wurden. In den 1960er-Jahren bildet sich dort eine friedliche Bürgerrechtsbewegung. Die republikanisch-katholische Minderheit war seit der Teilung Irlands im Jahr 1920 offener wie versteckter Diskriminierung ausgesetzt. Die Wahlbezirke waren auf die protestantisch-unionistischen Parteien zugeschnitten. Katholiken hatten kaum Zugang zum sozialen Wohnungsbau, stellten nur zwölf Prozent der Polizisten. Demonstrationen der katholisch dominierten, aber auch von vielen Protestanten mitgetragenen Bewegung wurden brutal niedergeknüppelt. Vor diesem Hintergrund wird die anfänglich grosse Unterstützung für die Irish Republican Army (IRA) verständlicher. Ende der 1960er-Jahre gingen die Unruhen in einen bewaffneten Konflikt über. Zwischen 1969 und 1998 überzogen republikanische Paramilitärs wie die IRA und loyalistische Einheiten wie die Ulster Defence Association (UDA) Nordirland mit Gewalt.

Der Konflikt schwappte immer wieder auch nach Grossbritannien und Irland hinüber. In der jahrzehntelangen blutigen Spirale wurden Menschen erschossen, gefoltert, von Bomben in Stücke gerissen. Ein tiefer Riss zog sich durch die nordirische Gesellschaft. In den 1990er-Jahren begann ein schwieriger Friedensprozess. Das Karfreitagsabkommen zwischen Grossbritannien, Irland und den Parteien Nordirlands beendete den Konflikt 1998 mit einer politischen Lösung.

Natürlich ist in Wahrheit alles sehr viel komplizierter. Die nordirische Gesellschaft war seit jeher von tiefen Gräben durchzogen, deren Ursprünge Jahrhunderte zurückliegen. Nach einer fehlgeschlagenen Revolte katholischer Iren forcierte das Königreich England Anfang des 17. Jahrhunderts die Umsiedelung protestantischer Engländer, Schotten und Waliser nach Nordirland. Die ansässigen Iren waren überwiegend Bauern, die Neusiedler vielfach wohlhabender. Diese Vorgeschichte muss man sich vergegenwärtigen, auch um zu verstehen, warum man in Nordirland selbst nicht von einem Konflikt zwischen Katholiken und Protestanten spricht, sondern von einem Konflikt zwischen den «Irish Nationalists/Republicans», die eine Wiedervereinigung Nordirlands mit Irland anstreben, und den «Unionists/Loyalists», die Nordirland als Teil des Vereinigten Königreichs betrachten. Der Nordirlandkonflikt wird gern als religiöser Konflikt dargestellt, er hat aber mindestens genauso imperialistisch-kolonialistische Wurzeln.

Hinzu kommen die tiefen Spuren der Auseinandersetzungen: Die ehemaligen Kämpfer der IRA weigerten sich lange, bei der Suche nach den Überresten der Opfer mitzuwirken, die man in Nordirland «Die Verschwundenen» nennt. Das Misstrauen gegenüber den noch immer protestantisch dominierten Sicherheitskräften, aus deren Reihen während der Troubles wiederholt Informationen an loyalistische Paramilitärs weitergegeben wurden, ist nicht geschwunden. Nordirland bleibt ein gespaltenes Land. Noch heute sind fast alle Viertel mit sozialemWohnungsbau jeweils zu neunzig Prozent von Katholiken oder Protestanten bewohnt. Man bringt einander nicht mehr um. Das heisst aber nicht, dass man sich vertraut.

Kultur der Gewalt

Enniskillen, die Hauptstadt Fermanaghs, liegt in Nordirlands Südwesten. Eine pittoreske Gemeinde nahe der irischen Grenze: knapp 14’000 Einwohner, ein Schloss aus dem 16. Jahrhundert, viele Kirchen, eine Handvoll Pubs. Um Enniskillen herum ist die Gegend hügelig, der älteste Teil der Stadt liegt auf einer Insel im Lough Erne, einem der vielen Seen in der Region. Enniskillen gehört nicht zu den Hotspots, die einem als Erstes einfallen, sobald die Rede auf den Nordirlandkonflikt kommt. Es ist nicht Belfast, wo man noch heute dafür Prügel kassieren kann, dass man mit dem falschen Dialekt in den falschen Pub geht. Es ist nicht Derry, wo die Erinnerung an den Bloody Sunday, an dem britische Soldaten auf protestierende Katholiken schossen, allgegenwärtig ist. In der Gegend um Enniskillen gab es nie Mauern, die katholische von protestantischen Vierteln trennten. Hier wohnten sie Haus an Haus, Nachbarn töteten Nachbarn. Das Schicksal der Familie Graham, deren drei Söhne innerhalb von vier Jahren ermordet wurden, kennt hier jeder.

Die Gegend rund um Enniskillen ist gleichzeitig ein guter und ein schlechter Ort, um die Troubles zu verstehen. Ein guter, weil man hier die schmutzige und direkte Seite des Konflikts spürt. Und ein schlechter, weil das Opferverhältnis nicht repräsentativ ist: Die Toten hier waren überwiegend Protestanten, während es bei den Opfern des Konflikts in Nordirland insgesamt einen leichten Überhang an Katholiken gab.

Wer nach Enniskillen fährt, stösst irgendwann auf den 8. November 1987. Die Troubles sind auf ihrem späten Höhepunkt. Durch Enniskillen zieht eine Parade des Ulster Defence Regiment (UDR). Es ist der zweite Sonntag im November, der Remembrance Day, an dem im Vereinigten Königreich jährlich derer gedacht wird, die in den Weltkriegen und späteren Konflikten gedient haben. Um 10:43 Uhr detoniert eine Bombe im Zentrum, wo Belmore Street und Queen Elizabeth Road zusammenlaufen. Als der Rauch abzieht, sind elf Menschen tot und 63 schwer verletzt. Ein zwölftes Opfer liegt danach dreizehn Jahre im Koma.

Das Remembrance Day Bombing vom 8. November 1987 gilt heute als ein Wendepunkt des Nordirlandkonflikts. Auch viele Republikaner sind geschockt. Selbst Zeitungen, die der republikanischen Partei Sinn Féin nahestehen, bezeichnen das Attentat als «monumentalen Fehler». Die IRA entschuldigt sich öffentlich, die Bombe sei zu früh explodiert. Es hilft wenig. Die Unterstützung für die Paramilitärs schwindet mehr und mehr. Das irische Parlament verabschiedet einen Monat später den Extraction Act, der die Auslieferung von IRA Terroristen vereinfacht.

Heute steht an der Stelle, wo die Bombe explodierte, eine Jugendherberge, die nach dem ehemaligen US-Präsidenten Bill Clinton benannt ist. Das Gelände gehört der katholischen Kirche. Ganz zur Ruhe gekommen ist die Gegend trotzdem nie. Als 2017 Angehörige der Opfer eine Tafel am «Clinton Center» anbringen wollen, streitet man sich um die Formulierung. Die Tafel hängt noch immer nicht.

In Nordirland schweigen die Waffen heute überwiegend. Es ist ein kalter Konflikt in einer brüchigen Gesellschaft. Erst 2010 gaben die letzten Paramilitärs ihre Waffen ab. Statt einer klaren Trennung ist eine komplizierte Gemengelage getreten: Gruppierungen mit Ursprung im Untergrund haben sich mit herkömmlicher Gangkriminalität gemischt, «gewaltgestützte Ökonomie» heisst das in der Soziologie. Katholiken und Protestanten arbeiten gegeneinander und zusammen, Gewalt wird nicht nur zwischen den Gruppierungen, sondern auch in den Siedlungen selbst angewendet.

Es ist nicht so, dass es in Nordirland keinen Staat und kein Gewaltmonopol gäbe, aber viele junge Nordiren lernen früh, dass alles seine Grenzen hat. «Ich rede manchmal in Schulen über Kriminalität», sagt Kenny Donaldson, Geschäftsführer der SEFF. Wenn es um Morde geht, seien sich die Schüler einig, dass das falsch sei. «Wenn ich aber Zigarettenschmuggel anspreche, steht meist jemand auf und sagt: Das ist keine Kriminalität, das ist Unternehmertum.»

Wer einfache Antworten sucht, wird sie in Nordirland nicht finden. Es gibt die reumütigen Alt-IRA-Terroristen, die heute für ihre Opfer beten, genauso wie Protestanten, die glauben, dass die Opfer des Bloody Sunday bekommen haben, was sie verdienten. Die zweitgrösste Stadt Nordirlands – offiziell Londonderry, von Republikanern nur Derry genannt – wird jährlich von zahlreichen Touristen besucht, die sich die Peace Walls und die die IRA verherrlichenden Zeichnungen an den Hauswänden anschauen. Und doch ist noch immer schon Kilometer vor der Stadt auf Wegweisern das «London-» überklebt. Ein grosses Strassenschild zählt die Tage, die Ex-IRA-Mitglieder im Gefängnis sitzen, und jedes Jahr im Juli kommt es rund um den Termin der Oranier-Märsche der Protestanten zu Strassenschlachten. Die Stadt, ob man sie nun Londonderry oder Derry nennt, steht für die schwierige Legierung aus Erinnerung, Folklore und realer Spannung, die viele ehemalige Konfliktgebiete kennzeichnet. Am 20. Januar 2019 explodiert in der Stadt eine Autobombe, zu der sich die «Neue IRA» bekannt hat – eine Splittergruppe, die das Karfreitagsabkommen ablehnt. Vorher gab es eine telefonische Warnung – zum Glück wurde niemand verletzt. Aber es weckte neu die Erinnerung an eine Vergangenheit, die nie vollkommen vorüberzugehen scheint.

Nordirland ist voll alter Wunden. Es kommt vor, dass man in einer Bar neben einem Mann Fussball schaut, dessen Verhalten leicht auffällig wirkt. Um dann später vom Barkeeper zu erfahren, dass dieser Mann als Teenager mitansehen musste, wie die IRA seinen Eltern eine Waffe in den Mund hielt. Schätzungsweise 500’000 Menschen leiden noch immer unter den psychischen Folgen des Konflikts.

Die nordirische Gesellschaft ist eine traumatisierte, um deren Wunden man sich lange nicht gekümmert hat. Im Büro der SEFF hängt ein Quilt, auf dem jedes der zahlreichen Quadrate für ein Opfer steht. Nicht jedes Opfer starb durch die Hand von Paramilitärs. Viele haben sich selbst getötet, auch lange nach dem Karfreitagsabkommen. Und manche, speziell die Opfer ausserhalb Nordirlands, werden bis heute vergessen.

Keine Gerechtigkeit für die Opfer

«Als die Kinder gekommen sind, wurde alles anders. Aber ich habe heute noch Albträume von diesem Tag», sagt Noel Downey. Er ist ein freundlicher, etwas grobschlächtiger Mann. Seine Arme, die aus dem blauen Poloshirt hervorschauen, sind stark tätowiert. Die Narben, die sie überziehen, sieht man dagegen erst auf den zweiten Blick.

Der Tag, der das Leben von Downey verändern wird, ist der 10. Juni 1990. Downey ist damals 27 und Soldat, Mitglied des UDR. Er fährt an seinem freien Tag mit dem Auto zum Pub, um ein paar Pints mit seinen Freunden zu trinken. «Das hat man damals so gemacht, es war eine andere Zeit», sagt er grinsend. Während er im Pub ist, platziert jemand eine Bombe unter seinem Wagen, direkt unter dem Fahrersitz. Als er losfährt, reisst ihm die Explosion sein rechtes Bein ab und schleudert es ihm so ins Gesicht, dass es seine Vorderzähne ausschlägt. Downey zeigt Fotos: Eine breite Blutspur zieht sich von dem Autowrack über die Strasse. «Ich weiss noch, dass ich mich darüber aufgeregt habe, dass meine neuen Sneaker kaputt waren», sagt Downey. «Verrückt, wie das Gehirn in solchen Momenten reagiert.»

Downey wird mehrmals operiert, er bekommt eine Prothese, lernt wieder zu gehen. So gesehen, ist er einer der glücklich Davongekommenen. «Immerhin sitze ich hier und kann meine Geschichte erzählen.» Seine Freundin und er bleiben zusammen, sie sind heute verheiratet. Und man erwischt den Täter – eine Ausnahme. Er wird verurteilt, ist aber nach zwei Jahren wieder auf freiem Fuss. Er, der Downey töten wollte, der ihm sein Bein geraubt hat, lebt in derselben Stadt wie sein Opfer. Downey und er begegnen einander regelmässig auf der Strasse.

Die juristische Aufarbeitung des Nordirlandkonflikts ist unzureichend. Zahllose Morde und schwere Gewalttaten sind nicht aufgeklärt oder bleiben aufgrund von Amnestien ungesühnt. Auch wenn die nordirische Staatsanwaltschaft derzeit Mordanklagen prüft, wurde bislang keiner der Schützen des Bloody Sunday zur Verantwortung gezogen; die Morde in der Gegend um Enniskillen haben eine Aufklärungsquote von fünf Prozent. Weil niemand redet, bis heute nicht. Die Menschen leben mit den Mördern Tür an Tür.

Zu den uralten Gräben sind neue, subtilere gekommen. Wie jener zwischen den Nordiren, die die Troubles durchlebt haben, und den Nachgeborenen, die sie nur aus Erzählungen kennen. Wie der Barkeeper Andy in Enniskillen, Ende zwanzig, der mit den Schultern zuckt, wenn man ihn darauf anspricht. Das sei halt alles schon so lange her. «Meine erste Freundin war Katholikin. Da habe ich Ärger mit meinem älteren Bruder bekommen.» Sonst habe das für sein Leben kaum noch Bedeutung.

Es gibt allerdings auch die anderen. Margaret Veitch ist eine beeindruckende Frau. Ihre grauen Haare sind gut frisiert, an Hals und Handgelenken baumelt Silberschmuck. Bevor sie in Pension ging, hatte sie ein Bekleidungsgeschäft auf der Belmore Street, nicht weit entfernt vom heutigen Clinton Center. Sie wirkt humorvoll, doch tief in ihr brennt es noch immer. Margaret Veitch bereist im Jahr 1987 gerade mit ihrem Mann Crawford Südafrika, als die Bombe in Enniskillen explodiert. Unter den Opfern sind auch ihre Eltern, William und Agnes Mullan. Sie erfährt erst zwei Tage später von ihrem Tod. Überwunden hat sie ihn nie. «Meine Eltern hatten nichts mit Politik zu tun», sagt sie. «Meine Mutter war ein Engel, und so vieles hat sie nicht mehr erleben dürfen.»

Veitch kann sich empören, dann schimpft sie wie ein Rohrspatz. Über die katholische Kirche, die jungen Leute, die sich kaum mehr vorstellen können, was Leute wie sie durchgemacht haben. Darüber, dass nie jemand für den Tod ihrer Eltern zur Rechenschaft gezogen wurde. Über die Mitwisser, die noch immer nicht auspacken. Über Tony Blair, der den Frieden möglich machte, indem er weitgehend auf Strafverfolgung verzichtete. Glaubt sie, dass sie als Problem betrachtet wird, weil sie nicht schweigen will? Veitchs Blick wird eisig: «Ich werde niemals schweigen.»

Es gibt Menschen, die Angehörige in den Troubles verloren haben und hauptsächlich abschliessen wollen. Wie der Ire Anthony O’Reilly, der seine 15-jährige Schwester 1972 durch eine Bombe von loyalistischen Paramilitärs verlor, als sie sich eine Portion Pommes frites holen wollte. Und es gibt jene Menschen wie David Temple, der nicht damit abschliessen kann, dass sein 16-jähriger Bruder bei einem Anschlag in Claudy starb, während er Milch ausfuhr. Temple ist in seinen Achtzigern, und noch immer will er einfach nur in Erfahrung bringen, was damals passierte. Wer dafür verantwortlich ist, dass sein Leben und das seiner Familie danach niemals wieder so sein sollte wie vorher. Menschen wie David Temple und Margaret Veitch fühlen sich verraten und verkauft. Doch jeder Frieden zieht einen Schlussstrich. Birgt ein Versprechen für die Zukunft, das zugleich eine Zumutung für die Opfer sein kann. Trotzdem ist die Frage nicht, ob das ungerecht ist. Die Frage ist: Was wäre die Alternative dazu?

Neue alte Grenzen

Wie geht es jetzt weiter in Sachen Brexit? Niemand weiss es so genau, die Fronten ändern sich fast täglich. Der Stand Anfang Februar: Das House of Commons hat Theresa Mays Brexit-Deal Mitte Januar abgelehnt, knapp zwei Wochen später aber dafür gestimmt, «alternative Regelungen» zum Backstop zu suchen. Im Grunde gibt es jetzt drei Möglichkeiten: Das Vereinigte Königreich bittet um einen Aufschub des Austrittsdatums, das Parlament nimmt den ausgehandelten Deal doch noch an (die geforderten Nachbesserungen hat die EU allerdings schon abgelehnt), oder das Land tritt am 29. März ohne Deal aus, mit entsprechenden Folgen. Grundsätzliche Kursänderungen wie ein zweites Referendum oder ein völliges Zurückziehen des Austrittsgesuchs sind nicht ausgeschlossen, aber unwahrscheinlich.

Das macht auch die Situation in Nordirland nicht leichter. Die Region ist seit Anfang 2017 ohne Regierung, weil sich DUP und Sinn Féin nicht auf eine Koalitionsregierung einigen können, das Karfreitagsabkommen aber eine Machtteilung zwischen Protestanten und Katholiken verlangt. Der Brexit macht die Lage nun zusätzlich kompliziert, weil die DUP vehement für einen Austritt plädiert, die Nordiren aber mit 55,8 Prozent für «Remain» gestimmt haben. Rund um die Grenze stehen zahlreiche Schilder, auf denen «Respect our Vote» oder «No Border» gefordert wird. Sinn Féin fordert deshalb ein Referendum über die Wiedervereinigung mit Irland – eine Möglichkeit, die im Karfreitagsabkommen ausdrücklich eingeräumt wird.

Tatsächlich halten Beobachter die Wiedervereinigung nicht mehr für so unrealistisch wie noch vor Jahren. Die demografische Entwicklung hat mittlerweile die jahrhundertelange Übermacht der Protestanten schrumpfen lassen; im Jahr 2011 stellten sie, zum ersten Mal seit es einen ernst zu nehmenden Zensus gibt, nicht mehr die absolute Mehrheit in Nordirland. Wie eine Abstimmung konkret ausgehen würde, kann niemand absehen. Nordirland ist eine arme Region, die von Grossbritannien mit jährlich zehn Milliarden Pfund unterstützt wird. Selbst die optimistischen Republikaner sagen, es wäre ein langer Weg.

Die Menschen in Nordirland haben einen hohen Preis bezahlt. Jeder Fünfte hatte in seinem direkten Umfeld Tote und Verletzte zu beklagen. Ihre Leben sind davon geprägt. Auch die Geschichte von Ernie Wilson ist nicht mit dem 28. Juni 1988 zu Ende, der schlimmste Teil nimmt da erst seinen Anfang: Nach der Explosion wankt Wilson aufgewühlt die Strasse entlang und trifft auf seinen Sohn James. Als er ihm von der Bombe erzählt, ist der geschockt. Er macht sich schwere Vorwürfe, sie nicht entdeckt zu haben, als er morgens den Bus durchsuchte. «Von da ging es mit ihm bergab», sagt der Vater.

Es folgen harte Jahre, die von James’ schweren Depressionen gezeichnet sind. Die Familie versucht vergeblich, den Sohn aufzufangen. Eines Tages fragt James seinen Vater, ob er mit ihm nach Spanien in den Urlaub fahre, ohne die Mutter. Die beiden haben zwei schöne Wochen in Magaluf, liegen am Strand, pfeifen den Frauen hinterher.

Einige Wochen nach der Rückkehr entdeckt Ernie Wilson den Toyota seines Sohnes mit laufendem Motor in der Garage, James sitzt darin. Es ist zu spät.

Heute kann Wilson mit fester Stimme von seinem Sohn erzählen. Davon, wie stolz er auf ihn war und wie stolz James wiederum auf ihn.

In seinem Wohnzimmer hängt ein gerahmtes Foto, auf dem James die Medaillen seines Vaters trägt. Auf der rechten, der falschen Seite der Brust, weil man fremde Medaillen nicht auf der linken, richtigen tragen darf. Auch wenn damals, bei dem Anschlag an jenem heissen Junitag 1988, niemand ums Leben kam, ist Ernie Wilson davon überzeugt, dass die Bombe ihn am Ende den Sohn gekostet hat. Für ihn ist auch James ein Opfer der Troubles.

«Mein Haar ist danach über Nacht weiss geworden», sagt er. Weder er noch seine Frau haben James’ Tod jemals überwunden. Aber darüber gesprochen haben sie beide kaum. Die Wilsons waren eine protestantische Familie, in der man über Gefühle nicht viel redete, man machte einfach weiter, einfach weil es weitergehen musste.

Ernie Wilson hat seine Frau in ihrem letzten Lebensjahr, bevor sie starb, zu Hause gepflegt. «Ich war der erste und der letzte Mann, den sie je geküsst hat», sagt er lächelnd. Und fügt hinzu: «Wir hatten ein gutes Leben.»