Bis zum letzten Abspann

ERSCHIENEN IN DIE ZEIT 51/2018

Die Breitenseer Lichtspiele gelten als ältestes Kino der Welt. Die 80-jährige Anna Nitsch-Fitz hält es im Alleingang am Leben.

Wenn der Projektor rattert, ist es ein guter Tag für die Breitenseer Lichtspiele. Wenn nämlich niemand kommt, wird er erst gar nicht angeworfen. An diesem Novemberabend haben aber Besucher den Weg in das kleine Kino in Wien-Penzing gefunden. In den Vorraum schwappt der Ton von The Florida Project, einem US-Filmdrama, herüber. Anna Nitsch-Fitz könnte sich freuen, doch jetzt muss die 80-jährige Kinochefin die Abrechnung machen. Die Betreiberin, die den meisten ihrer Gäste nur bis zur Brust reicht, sitzt auf einem Hocker in einer winzigen Kammer. Sie ist mit Aktenordnern und Filmplakaten vollgestopft. Die alte Dame trägt auf einem Blatt Papier Zahlen in Tabellen ein.

Ohne Nitsch-Fitz würde es dieses Kino, diesen Hocker, diese Papierberge schon lange nicht mehr geben. Im Alleingang hält die Pensionistin beharrlich die Breitenseer Lichtspiele am Leben. Ein Kino, das es seit mehr als 100 Jahren gibt – und das es nach den Regeln des Marktes eigentlich gar nicht mehr geben sollte.

“Das ist ja schon fast ein Museum hier, oder?” Nitsch-Fitz kämpft sich aus der Kammer und schlurft langsam durch ihr Reich. Sie geht am Stock, ihr Fuß ist “hinnich”, wie sie selbst sagt. Im Vorraum hängen alte Poster für Filme von Fritz Lang, Die Nibelungen oder Frau im Mond. Eine Vitrine schmücken Danksagungen der Wirtschaftskammer. “Für Frau Magister Anna Nitsch-Fitz”, für ihren “unermüdlichen Einsatz”, für die Zukunft “das Allerbeste”. Der Lebensmittelhandel hat sie zuletzt zu einer Ehrung eingeladen, weil sie eine der ältesten Lebensmittelkonzessionen Wiens besitzt. Dank kriegt man schnell, mit dem Geld wird es dann kompliziert.

Die Breitenseer Lichtspiele mit ihrem Neonschriftzug über der Tür sind eines der ältesten durchgängig bespielten Kinos der Welt. Im Jahr 1905 beginnt die Familie Guggenberger Filme zu zeigen, in einem Zelt, das auf leeren Bauplätzen steht – auch an der Breitenseer Straße. Als dort 1909 das jetzige Gebäude fertiggestellt wird, zieht das Kino ein. Zwei Jahre später wird es an die Familie Grün verkauft. Es erlebt den Übergang vom Stumm- zum Tonfilm, besteht auch in den Kriegsjahren weiter. Die Besitzerin Anna Wolfschütz-Grün ist Mitglied der NSDAP. Das Kino kommt deshalb nach dem Krieg unter öffentliche Verwaltung und wird Wolfschütz 1947 zurückgegeben.

Seitdem wurden immer wieder Dinge verändert, aber vieles in dem lang gezogenen Saal wirkt wie vor 100 Jahren. Eine fünf mal drei Meter große Leinwand, davor 168 knarrende, ungepolsterte Holzsessel, die vor ein paar Jahren restauriert wurden. “Ich möchte Leuten zeigen, wie Kino anno dazumal war”, sagt Nitsch-Fitz. Ganz vorbeistehlen an den Neuerungen konnte sie sich nicht. Während große Kinotempel Millionen Euro in Digitalprojektoren und 3-D-Filme investieren, werden in den Breitenseer Lichtspielen die Filme heute auf DVD und einem kleinen Server über einen Beamer abgespielt. Die komplette Digitalisierung des Kinos hätte 100.000 Euro gekostet.

Knapp keine Kriegsware

Seit sie auf der Welt ist, hat Anna Nitsch-Fitz mit Kinos zu tun, sie wächst in einem auf. Ihre Großmutter kommt 1918 von Görtz an der norditalienischen Grenze nach Wien und kauft das Nussdorfer Kino in der Heiligenstätter Straße. Am 22. Jänner 1938 wird ihre Enkelin geboren. “Knapp noch keine Kriegsware”, sagt Nitsch-Fitz. Die kleine Anna spielt hinter dem Kino in der Sandkiste. Je älter sie wird, desto mehr hilft sie mit. Sie reißt Karten ab, vertritt die Kassiererin, sucht am Ende gemeinsam mit ihrer Großmutter die Filme aus. Als die stirbt, führt Nitsch-Fitz das Nussdorfer Kino noch zwei Jahre für ihren Vater weiter. 1969 wird es geschlossen.

Die Frau, die mit dem Kino aufgewachsen ist und es ohne Kino nicht aushält, schaut sich nach Alternativen um. Sie hört, dass die Besitzerin das Breitenseer Kino abgeben will. Als sie das Lichtspielhaus zum ersten Mal betritt, macht sie sofort wieder kehrt. “Ich war das Nussdorfer Kino gewohnt mit 483 Plätzen”, sagt Nitsch-Fitz. Der neue Saal sei ihr klein und beengend vorgekommen. Letztlich zahlt sie doch 100.000 Schilling Ablöse und mietet das Kino in der Breitenseer Straße 21.

Die alte Kinobesitzerin erzählt gerne. In ihren Geschichten haben die Menschen immer Namen – der Herr Moser vom Filmverleih Thim, der Herr Blechinger vom Filmverleih Jupiter oder ihre Firmpatin, die Frau Hofrat Danielski. Sie hat ein phänomenales Gedächtnis. In ihren Geschichten nennt sie zu allen Häusern Straßennamen und Hausnummer, und wenn sie erzählt, wo ihre Großmutter vor 80 Jahren eine Erweiterung des Kinos geplant hatte, fährt sie mit dem Finger imaginäre Wiener Straßen auf ihrem Rock nach.

Nitsch-Fitz kommt aus einem guten Elternhaus. Ihr Vater ist praktischer Arzt, der Familie gehört bis heute ein großes Anwesen in Wien-Hietzing. Trotzdem weiß sie früh, dass sie von dem Kino mit den 168 Plätzen nicht wird leben können. Sie studiert Mathematik und Physik, wird Lehrerin an einem Gymnasium. Morgens steht sie vor der Klasse, abends kümmert sie sich um das Kino. Für Hobbys bleibt keine Zeit. “Ich hab immer nur das Kino und die Schule gehabt”, sagt sie.

Nitsch-Fitz hat sehr gerne unterrichtet. Als sie aufgrund einer Krebserkrankung in Pension gehen muss, ist sie unglücklich. Bis ihr Bruder sagt, dass ihr doch nichts Besseres passieren könne: mehr Zeit für ihr geliebtes Kino, die große Konstante in ihrem Leben. Verheiratet war sie nie. Einmal hat sich Anna Nitsch-Fitz verliebt. In den Franz, mit dem sie 15 Jahre lang glücklich ist und der als Filmvorführer in ihrem Kino arbeitet. Franz ist vor ein paar Jahren gestorben. In ihren Augen blitzt es kurz, wenn sie von Franz erzählt.

Fragt man Anna Nitsch-Fitz nach dem schönsten Moment im Kino, sagt sie: “Als wir mit einem Peter-Alexander-Film ausverkauft waren. Ist aber auch schon 30 Jahre her.” Das Herz von Nitsch-Fitz hängt an dem Kino, weniger an den Filmen. Sie ist keine Cineastin. Sie setze sich zwar immer wieder in den Saal und schaue ein wenig zu, habe aber, sagt sie, noch keinen Film in ihrem Kino vollständig gesehen. Sie müsse ja immer die Abrechnung machen, und ständig läute das Telefon. Für ihr Kino hatte Nitsch-Fitz immer wieder Pläne. Hans Hurch, den verstorbenen Leiter der Viennale, hat sie in der Vergangenheit mehrfach angerufen. Ob die Breitenseer Lichtspiele nicht Teil des Filmfestivals werden könnten. Hurch lehnte ab, das sei zu weit ab vom Schuss. Das hat Frau Nitsch-Fitz geärgert, weil man mit der U3 in acht Minuten am Stephansplatz ist. Sie ist unverkennbar eine Wienerin: Wenn sie sich aufregt, schimpft sie, es bebt kurz alles in ihr, bis sie es wieder mit einer lakonischen Bemerkung wegwischt und weitermacht: “Was soll ich tun? Ich kann nicht gegen den Wind Klavier spielen.“

Die schwarze Null

Im Saal ist der Film mittlerweile zu Ende. Die Tür öffnet sich, eine Gruppe Mittdreißiger kommt heraus. Sie kneifen die Augen zusammen, schlüpfen in ihre Mäntel und strömen in die Nacht hinaus. Die zweite Vorstellung an diesem Abend wird mangels Publikum ausfallen. Es ist ein guter Tag in den Breitenseer Lichtspielen, aber kein perfekter.

In dem Kino laufen kleinere deutschsprachige Filme oder nicht mehr ganz aktuelle Auslandsproduktionen. Aktuell die Dokumentation Egal, was kommt über eine Weltumrundung auf dem Motorrad oder Zama, ein argentinisches Drama, das 2017 auf Festivals lief. Durchschnittlich wollen das nur noch 150 Besucher im Monat sehen. Das Kino bekommt 12.000 Euro Förderung im Jahr, das reicht hinten und vorne nicht. Ihre Pension von 2.500 Euro fließt fast vollständig in das Kino, um das Minus auszugleichen. Es stecken ja auch fast 50 Jahre ihres Lebens darin. “Ich dachte, ich mach das Kino so lange, bis meine Nichte und die zwei Neffen es weiterführen können”, sagt Nitsch-Fitz. Die helfen seit Jahren, wären auch bereit dazu. Sie haben aber Familie, und eine schwarze Null müsse zumindest vor dem Ergebnis stehen, sagen sie. Damit sich das irgendwann ausgeht, arbeitet Nitsch-Fitz noch immer jeden Tag vier bis fünf Stunden in ihrem Kino.

Nitsch-Fitz steckt nicht nur Geld in die Breitenseer Lichtspiele, sondern denkt sich gemeinsam mit ihren Nichten und Neffen Sonderveranstaltungen aus, die Geld in die Kasse spülen sollen. Es gibt Stummfilmabende, an denen ein Klavierspieler kommt. Es gibt die Reihe Kult-Kino, bei dem Künstler ihre Lieblingsfilme zeigen. Den Auftakt machten der Sänger Voodoo Jürgens und der jugoslawische Streifen Ko to tamo peva, da waren 100 zahlende Gäste im Kino. So was hilft. Und mit Eva Sangiorgi, der neuen Chefin der Viennale, möchte sie es noch mal probieren. Die sei begeistert gewesen von Kino Wien Film, einem Film über die Geschichte der Wiener Kinos, der auf der letzten Viennale lief und in dem die Breitenseer Lichtspiele vorkamen. Vielleicht fahre die Viennale-Chefin ja mal die acht Stationen mit der U3 hinaus. Nach Breitensee, wo sich eine alte Frau standhaft weigert, ein Kino zu schließen, bloß weil es kein Geld abwirft. Und dabei vielleicht doch ein wenig gegen den Wind Klavier spielt.