Der Blitzableiter

ERSCHIENEN IN DATUM 12/2020

Franz Hörl ist Seilbahnsprecher in der Wirtschaftskammer, ÖVP-Politiker und Hotelier. Für seine Kritiker verkörpert er alles, was im Tiroler Tourismus schiefläuft. Genau das könnten seine Unterstützer auch an ihm schätzen.

Franz Hörl mag seine Talente haben, Timing gehört nicht dazu. Am 29. Oktober setzt der Seilbahnsprecher der Wirtschaftskammer eine Pressekonferenz an. Titel: ›Stoppt die kontraproduktiven Reisewarnungen und Beschränkungen im Grenzverkehr‹. Am Nachmittag des- selben Tages ist klar, dass der nächste Lockdown kommen wird. Es mag dafür eine Erklärung geben – es sollte unter anderem um Firmen gehen, die Standorte in Österreich und im nahen Bayern haben. Aber sowas verstärkt den Eindruck, dass die Tiroler Touristiker und der Rest des Landes gerade nicht ganz in derselben Welt leben. 

Hörl ist Obmann des Tiroler Wirtschaftsbunds, sitzt für die ÖVP im Nationalrat und vertritt die Seilbahner in der Wirtschaftskammer. Der 63-Jährige hat ein Hotel und ist Geschäftsführer der Seilbahngesellschaft in seinem Heimatort. Medien rufen ihn an, wenn es um das Thema ›Wintertourismus‹ geht, und er hebt auch zuverlässig ab. Deshalb steht er in der Öffentlichkeit sinnbildlich für den Tiroler Tourismus. Und damit wahlweise für seinen Erfolg oder für alles, was schiefgelaufen ist. An Hörl haben sich in den letzten Monaten sehr viele Menschen abgearbeitet. 

Der öffentliche Franz Hörl bietet auch eine Menge Angriffsfläche. Regelmäßig reitet er per Presseaussendung aus, besonders gern gegen die Grünen und Umwelt-NGOs. Ende Oktober richtet er der grünen Tourismussprecherin Barbara Neßler auf Facebook aus, sie solle ›die Hetzerei‹ sein lassen, als sie zu einem Umdenken im Tourismus auffordert. 2018 nennt er eine Professorin der BOKU, die ein kritisches Gutachten zu einem Skigebiet verfasst, eine ›Landschäftsgärtnerin‹. Wer es gut mit ihm meint, erklärt das mit Tiroler Lokalkolorit: die raue Schale, die eben zum Angehörigen eines Bergvolks dazugehöre. Hörl selbst meint, dass er sicher ›für einen Politiker atypisch direkt‹ sei. Das hänge mit seiner Herkunft und seinem Temperament zusammen. ›Die ein oder andere Wortspende hätte ich mir aber sparen können.‹ 

Hörl sitzt im Café Central, einem bekannten Café in Innsbruck. Er hat den Termin spontan verschoben, es sind stressige Tage. Seit März spielt er ›nur mehr den Feuerlöscher‹. Die Tiroler Touristiker sind nervös: Zum Zeitpunkt des Interviews hoffen sie noch auf einen Start Anfang Dezember. Zweieinhalb Wochen später ist klar: Das wird ein frommer Wunsch bleiben. Vor Mitte Dezember kann die Saison auf keinen Fall starten. Das kann Hörl nicht freuen, aber so ist das eben. Im Gespräch stellt er gefühlt jedem Satz voran, dass die ›Gesundheit das Wichtigste‹ sei und an erster Stelle komme. 

Dass der Tourismus für Tirol wichtig ist, ist keine revolutionäre Erkenntnis. Aber man muss sich die Zahlen trotzdem vergegenwärtigen: Die Branche ›Tourismus- und Freizeitwirtschaft‹ sorgt im Land für 17,5 Prozent des BIP, mit der indirekten Wertschöpfung sind es noch mehr. Fast jeder vierte Job hängt daran. Es ist einfach, den Tiroler Hoteliers und Seilbahnbesitzern eine schlechte Saison zu wünschen. Als Denkzettel für Hybris, Unverantwortlichkeit, die Geschichten über die schlechte Behandlung der Mitarbeiter. Aber eine ausgefallene Wintersaison trifft eben nicht nur die reichen Hoteliers, sondern alle. Das macht die Sache so kompliziert. 

›Ischgl hatte das Pech, dass es dort ausgebrochen ist‹, sagt Hörl heute über den ›Ground Zero‹ des Tiroler Wintersports. Auch andere Skiorte hätten Fälle gehabt. Das stimmt, ist allerdings auch nur die halbe Wahrheit, wenn überhaupt. Après-Ski-Höllen wie das Kitzloch waren perfekte Brutstätten, Verleugnung der Realität und Fehler in der Abwicklung der Quarantäne verschlimmerten die Situation. Hörl hat persönlich mit der Causa Ischgl wenig zu tun, nicht mal seine Kritiker behaupten das. Aber in ihren Augen ist er Teil eines Systems, das das Ganze möglich gemacht habe. 

Peter Plaikner, Politik- und Medienberater in Innsbruck, schrieb Ende März im Standard einen Gastbeitrag, der ein ›Ende des Systems Tirol‹ heraufbeschwor. Ein System bestehend aus der Unterordnung unter die Gäste, zur Schau getragenem Stolz, zu Geld gemachter Dienstfertigkeit. Er attackierte den Seilbahn-Sprecher persönlich: ›Hörl ist ein Symptom. Für Tirol.‹ Nur ein dem Tourismus geschuldetes Sozialbiotop könne so eine Figur hervorbringen. 

Das ist, unabhängig von den Wertungen, nicht falsch. Hörl ist zweifelsfrei ein Kind des Tourismus. Er wird 1956 in das Dorf Gerlos in einem Seitental des Zillertals hineingeboren. Die Familie hat einen Hof und ein Hotel, wie fast alle im Ort. Er macht die Tourismusfachschule, arbeitet zwei Jahre in Liechtenstein im Restaurant seines Onkels und reist dann ein Dreivierteljahr mit dem Bus durch die USA. Nach Tirol zurück will er erstmal nicht. ›Ich wollte im Ausland arbeiten, Sprachen lernen‹, erzählt Hörl. ›Ich hätte auch die Green Card bekommen.‹ Als er 21 Jahre alt ist, bekommt sein Vater eine Krebsdiagnose und stirbt innerhalb von zwei Monaten. Hörl ist der Älteste von vier Geschwistern, es gibt keine Diskussion. Er übernimmt Hof und Hotel. Als erste Amtshandlung kauft er zusätzlich den Betrieb eines Nachbarn, den schon sein Großvater kaufen wollte. ›Die Leute reden, dass ihr es eh nicht schafft‹, sagt ihm der Nachbar. Das hat sich Hörl gemerkt. 

Das alles ist – glaubt man den Menschen, die sich damit auskennen – eine klassische Tiroler Biografie. Nach dem Zweiten Weltkrieg werden die Bergbauern quasi mit dem deutschen Wirtschaftswunder reich. Ihre Kinder wachsen wie selbstverständlich in diese Welt hinein und übernehmen die patriarchalen Muster ihrer Väter. Diese zweite Generation, zu der auch Hörl gehört, tritt gerade ab. 

In den 70ern ist die Zillertal-Region noch nicht die perfekt geölte Tourismusmaschine von heute, die täglich hunderte Kilogramm Kaiserschmarren auf jeden Berggipfel bringt. Die Infrastruktur ist mies, die Dörfer sind schlecht erreichbar. Es geht oft wenig weiter, nicht nur in Gerlos, weil sich die streitbaren Bauern nicht darauf einigen können, welchen Berg man denn erschließen will. Grob gesagt will ihn jeder vor der Haustür haben. 

›Bei mir im Dorf gab’s Streit und Hader, jeder ist auf den anderen drauf‹, erinnert sich Hörl. ›Da hab ich gelernt: Wenn ich unser Dorf weiterbringen will, muss ich schauen, dass ich Ordnung schaffe.‹ Bei der Gemeinderatswahl 1983 gründet er mit dem örtlichen Skilehrer eine junge Liste, führt einen – für Gerloser Verhältnisse – aggressiven Wahlkampf und zieht in den Gemeinderat ein. 1992 wird er selbst Bürgermeister. Auch das ist eine klassische Tiroler Geschichte: Es gibt immer den einen Mann, der den Ort geeint hat, der alle zu einem Burgfrieden animiert hat, zur Wahrung der gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen. Gerlos hat knapp 800 Einwohner, die ›Schilift-Zentrum-Gerlos GmbH‹ hat 64 Gesellschafter, oft mit einem Mini-Anteil, Hörl hält knapp über 25 Prozent. Das ist das Umfeld, in dem er Politik lernt. Als er das Dorf übernimmt, hat Gerlos 250.000 Nächtigungen. Als er 2009 übergibt, sind es 650.000. Im Jahr 2006 zieht er das erste Mal in den Natio- nalrat, aus dem er 2013 rausfliegt. Zwei Jahre später kandidiert er ›als Außenseiter‹ erfolgreich für das Amt des Obmanns des Tiroler Wirtschaftsbunds, 2018 kehrt er in den Nationalrat zurück. 

Wer Hörl nur als den polternden Seilbahner im Fernsehen erlebt, dem entgehen ein paar Zwischentöne. Im persönlichen Gespräch blitzt ein feiner Humor durch. Hörl ist nicht nur Jäger, sondern auch leidenschaftlicher Landwirt. Er kann das Geräusch einer Melkmaschine nachmachen und ebenso begeistert über seine Mutterschafe und ›Rindviecher‹ reden wie über die Europäische Union. ›Ich bin glühender Europäer, ich hab in den 90ern vor dem Beitritt jahrelang dafür gekämpft‹, sagt Hörl. Wenn er sagt, dass ihn die Reisebeschränkungen auch deshalb ärgern, dann mag man ihm das glauben. Auch wenn sich da politische Präferenzen und wirtschaftliche Interessen treffen mögen. 

Franz Hörl hat sich in den letzten Monaten nicht nur mit Ruhm bekleckert. Er hat ›leider Gottes‹ dieses SMS (›nach 10 Tagen ist viell. schon Gras über die Sache gewachsen‹) an den Betreiber des Kitzlochs geschrieben und seltsame Pressekonferenzen gegeben. Aber Hörl ist von Beruf Interessenvertreter, und als dieser hat er die Interessen der Wirtschaft zu vertreten. Dafür ist er gewählt, das kann man ihm kaum zum Vorwurf machen. Seine Leute sind offenbar sehr zufrieden mit ihm. Im Februar wurde er mit 97 Prozent als Obmann des Wirtschaftsbunds Tirol wiedergewählt, Anfang März triumphierte seine Organisation mit fast 80 Prozent der Stimmen bei der Wahl zur Wirtschaftskammer. 

Viel ist geschrieben worden über die traditionell enge Verbindung von Tourismuswirtschaft und Politik in Tirol. Über die Adlerrunde, den losen Zusammenschluss aus wichtigen Tiroler Unternehmern, deren Mitglieder teilweise hohe Spenden an die ÖVP überweisen. Die Branche hat jetzt ein Interesse daran, ihre Rolle herunterzuspielen. ›Der Einfluss der Touristiker wird weit überschätzt‹, sagt Hörl, er hätte gerne mehr. Dass ein Land wie Tirol die Bedürfnisse des Tourismus mitbedenke, sei angesichts der wirtschaftlichen Bedeutung klar. ›Aber ich hab mein ganzes Leben lang eines erlebt: Die Interessen der Touristiker, die gibt es nicht.‹ Den Haufen zusammenzuhalten, das müsse man erst einmal hinbringen. 

Am Freitag, den 13. März, als Tirol die Quarantäne über eine Reihe von Skigebieten verhängt, steht Hörl bei der Pres-sekonferenz auf dem Podium am Rand. Landeshauptmann Günther Platter und er kennen sich lange. Hörl hat keine offizielle Funktion in der Landespolitik, aber Platter ließ ihn in den letzten Jahren gerne einmal öffentlich mit dem grünen Koalitionspartner streiten, um danach als Landesvater gütig den Mantel aufzumachen und den Kompromiss einzufordern. 

Am Donnerstag, einen Tag vor der Pressekonferenz, soll es ein Schreiduell gegeben haben, zwischen Hörl und Platter, so wird es zumindest erzählt. Das passt gut in die Geschichte, dass Wirtschaftsvertreter gegen die Schließung der Skigebiete interveniert hätten. Die Rohrer-Kommission, die die Vorgänge in Ischgl untersuchen sollte, konnte keine solche Intervention feststellen. Und auch Hörl erzählt das Ganze unspektakulärer: Am Donnerstag sei er im Büro des Landeshauptmanns gewesen und habe erfahren, dass man alle Skigebiete zusperren wolle, auch die ohne bekannte Corona-Fälle. ›Natürlich fragt man da als Wirtschaftsvertreter warum, auch mehrfach.‹ Es habe eine Diskussion gegeben, aber letztlich hätten die Mediziner und der Landeshauptmann alle überzeugt. Er sei danach im Auto von geschockten Wirtschaftstreibenden angerufen worden, ob er das wirklich mittrage. ›Ich hab dann irgendwann gesagt: Wenn ich das mit einem Rücktritt rückgängig machen könnte, wäre ich längst zurückgetreten.‹ 

Hörl mag manchmal wie ein leicht schräges Unikat wirken, aber eigentlich gibt es in Tirol viele Männer wie ihn. Sie sind gleichzeitig Produkt wie aktive Stützpfeiler ihrer Umgebung. Des ›Systems Tirol‹, das im Grunde eine Spezialform des Systems Österreich ist. Sie sind hineingeboren worden, kennen es nicht anders, haben es aber auch weiterentwickelt und stets mitgetragen. Und doch hat der Gegenwind des Jahres 2020 ein wenig Spuren hinterlassen. Auch in der Tourismuswirtschaft merkt man, dass man sich zumindest ein wenig verändern muss. ›Ob man ein gutes Produkt anbietet oder nicht, merkt man an der Nachfrage‹, sagt Hörl. Der österreichische Wintertourismus sei ein Top-Produkt. ›Es gibt aber ein paar Dinge, die in den letzten Jahren in die falsche Richtung gelaufen sind.‹ Beim Après-Ski, volle Tube von 14 Uhr bis 22 Uhr, da müsse man nachjustieren. 

An der Hauptstraße in Gerlos, in zwei Minuten Gehweite von der Seilbahnstation, liegt der Gaspingerhof, Hörls Hotel. Es ist ein gut gepflegter, holzverkleideter Bau, eine Brücke führt über den Außenpool. Ein schönes Hotel, Hörl lebt gut davon. Aber im Tourismus ist er – verglichen mit vielen Unternehmern, die er vertritt und die ihn wählen – ein kleiner Fisch. Der Tiroler Blogger Markus Wilhelm hat Hörls Rolle in einem Interview mit der Zeitschrift Tagebuch einmal so definiert: Er sei bei den Massentouristikern akzeptiert, weil sich dadurch ›die Herren hinter ihm, die Seilbahner im Paznaun, im Ötztal, im Zillertal, im Stubai oder am Arlberg selber die Hände nicht schmutzig zu machen‹ brauchten. Das ist vielleicht ein bisschen gemein. Aber dass Hörl für die Ti- roler Touristiker und Wirtschaftstreibenden eine Funktion erfüllt, das sagen viele, mit denen man redet. Hörl schlägt die öffentlichen Pflöcke ein, hat keine Angst vor dem Konflikt und zieht den Unmut auf sich wie ein Blitzableiter. Und so tun die Menschen, die sich nur auf Hörl fokussieren, aber das System Tirol meinen, den anderen Rädchen in diesem System damit vielleicht auch ein wenig einen Gefallen.