Jessy ist nicht mehr

ERSCHIENEN IN DATUM 02/2018

10.000 Haustiere sterben jedes Jahr in Wien. Was passiert mit ihnen?

Der Hund

Am 9. November, in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag, gegen 4 Uhr früh, macht Jessy ihren letzten Atemzug. Sie ist alt, 14 Jahre, als sie in ihrem Hundebett stirbt. Es ging schnell. Wenigstens das.

Und der Tod kommt nicht völlig überraschend. Die Hündin hatte seit geraumer Zeit Wasser in der Lunge, ihr Herz tat nicht so, wie es sollte. Am Mittwoch hatte Jessy, der Mops-Dackel-Mischling, den ganzen Tag nicht mehr gefressen. Jessy war ein fröhlicher, wenn auch manchmal zurückhaltender Hund. Sie mochte Dinge, die Hunde halt so mögen: Spazierengehen, Herumliegen, Fressen. Sie hatte Angst vor dem Tierarzt, liebte ihr Herrchen, hatte ihren eigenen sturen Kopf. Auf einem Urlaub in Mariazell riss sie sich los und rannte davon, als sie keine Lust mehr hatte. Als ihr Besitzer nach zwei Stunden Suche entnervt aufgab, wartete der Hund seelenruhig hechelnd vor dem Hotel. Und dennoch: In den acht Jahren, in denen sie bei ihrem Herrchen lebte, hat sie ihm viel Freude bereitet. Jessy genoss ein erfülltes Hundeleben, das einige Tage nach ihrem Tod, im Simmeringer Tierkrematorium bei 750 Grad auch ein körperliches Ende findet.

Der Besitzer

Das mit Jessy und dem Leben begann eigentlich nicht so erfreulich. Die Hündin ging durch einige Hände, die Vorbesitzer behandelten sie schlecht. Das änderte sich erst, als sie 2009 zu Martin Moser kam. ›Ich habe sie wieder aufgebaut‹, sagt Moser. Seine Augen leuchten, wenn er von Jessy spricht. Moser übernahm den Hund vom Sohn eines Arbeitskollegen. Jessy war schreckhaft, ängstlich. Das kriegst du nicht mehr hin, sagten die Leute zu Moser, der Hund ist verloren. Sie hatten unrecht.

Doch das Leben von Jessy und ihrem Herrchen blieb ein Kampf gegen Widrigkeiten. Im Jahr 2012 entwickelt die Hündin ein Herzleiden. Der Tierarzt gibt ihr zwei bis drei Monate. Es werden fünf gemeinsame Jahre daraus.

Moser ist alleinstehend, wohnt in Wien-Landstraße und hat einen sicheren Job bei der MA 48. Jessy ist acht Jahre lang seine Kumpanin, sie gehört zu ihm. Moser geht auf Haustiermessen, gibt dort für Jessy jeweils 500 bis 1.500 Euro aus. Der Hund bekommt das beste Futter, das beste Spielzeug – und gibt dafür Liebe zurück. Am Mittwoch, Jessys letztem Tag, geht Moser noch einmal mit ihr zum Tierarzt. Da sei vermutlich nichts zu machen, sagt der. Und dieses Mal hat er Recht.

Moser streichelt seinen Hund vor dem Schlafengehen noch einmal. Als er um eins auf die Toilette geht, atmet Jessy noch. Als er später erneut aufwacht, liegt die Hündin in ihrem Erbrochenen.

Die Telefonistin

›Wiener Tierkrematorium, Stankovic spricht, grüß Gott. Wie kann ich Ihnen helfen?‹ Fünf Tage in der Woche sitzt Janin Stankovic in einem Büro in Wien-Neubau und nimmt Telefonate entgegen. Das Büro gehört zu einer Gebäudereinigungsfirma, die auch Gesellschafterin des Wiener Tierkrematoriums ist. Bei Stankovic in Wien-Neubau landen sowohl geschäftliche Anrufe wie Anrufe von Menschen wie Martin Moser, die gerade ihr Tier verloren haben. Die verschiedenen Telefonnummern haben ein unterschiedliches Klingelzeichen, damit die Mitarbeiter schon vorher im Kopf umschalten können.

Stankovic nimmt dreißig bis vierzig Anrufe pro Tag für das Tierkrematorium entgegen. Viele Anrufer sind gefasst, andere weinen, sind völlig aufgelöst. Meistens hängt das damit zusammen, wie plötzlich der Tod kam und wie sehr die Menschen im Vorfeld bereit waren, sich damit zu beschäftigen. Eigentlich wie beim Tod von Angehörigen, und ein bisschen ist das ja auch so.

›Das Wichtigste ist, den Leuten zuzuhören‹, sagt Stankovic. 90 Prozent der Anrufer erzählen von ihrem Tier, von dessen Leben, dessen Wesen, dessen Tod. ›Man muss den Leuten Raum geben. Ich hör gerne zu, ich habe ja auch einen Hund.‹ Die 23-jährige Wienerin ist freundlich, kommunikativ, lacht gerne. Große Kreolen baumeln von ihren Ohren. Ihr mache es Spaß, Menschen in einer Ausnahmesituation weiterzuhelfen, sagt sie. Das ist der soziale Aspekt. Aber das Tierkrematorium ist auch ein Unternehmen, und Stankovic führt letztlich ein Verkaufsgespräch. Das ist die Gratwanderung, die alle Mitarbeiter schaffen müssen.

Stankovic führt die Menschen durch alle Aspekte, sagt auch, wenn etwas nicht geht. Nutztiere sind von der Kremierung ausgeschlossen, selbst wenn das Schaf eigentlich schon zur Familie gehörte.

Stankovic vereinbart Abholungen, Termine für die Kremierung, erklärt Preise. Das Wiener Tierkrematorium bietet ein Rundumpaket. Wenn man will, kann man sich auch eigene Urnen anfertigen lassen, es sind kaum Grenzen gesetzt, abgerechnet wird nach Kilogramm. Jessy war ein kleiner Hund, Martin Moser zahlte insgesamt 227 Euro. Bei größeren Familienhunden schnellt der Preis rasch hinauf. Wenn Stankovic abends fertig ist, packt sie ihre Sachen, geht nach Hause und streichelt ihren American Staffordshire. Was sie am Tag erlebt hat, lässt sie im Büro. Meistens. Einmal hatte sie eine Frau am Telefon. Der Hund der Nachbarin war nach einer Panikattacke plötzlich aus dem Fenster im dritten Stock gesprungen. Es war ein American Staffordshire. Seitdem schließt Stankovic ihre Fenster.

Der Prokurist

Es ist nicht so, dass Alfred Deim Tiere nicht lieben würde. Aber wenn er spricht, klingt alles gleich viel technischer als bei den Kolleginnen am Telefon. ›In der Tierkörperver- wertung wird alles auf fünfzig Millimeter gebrochen und anschließend zwanzig Minuten bei 134 Grad und drei Bar erhitzt‹, sagt er. Oder: ›Das verbleibende Tiermehl wird verbrannt, das Tierfett geht in die Biodieselproduktion.‹ Deim ist Prokurist bei der EBS-Tierservice. Das städtische Unternehmen kümmert sich um Wiens tote Tiere – beziehungsweise um das, was von ihnen übrigbleibt: Die Tierkörperverwertung ist ein Verfahren, bei dem Schlachtabfälle, Nutz- und Wildtiere, aber auch ehemalige Haustiere industriell zerhäckselt und verbrannt werden. Das hat mit der pietätvollen Einäscherung im Tierkrematorium 20 Meter weiter wenig zu tun. Es dient der Seuchenvermeidung, und für Privatleute ist es in Wien kostenlos. Auf dem EBS-Gelände in Simmering steht auch das Wiener Tierkrematorium, an dem es beteiligt ist. Am Standort Simmering werden seit 1878 Tiere verwertet, seit 1992 gibt es das Krematorium für Privatkunden. Vor sechs Jahren leistete man sich einen Neubau. Auch, weil sich der Wert, der Tieren zugemessen wird, in den letzten 25 Jahren gesteigert hat. In Wien gibt es mittlerweile über 80 Hundesalons, die Ausgaben der Österreicher für ihre Haustiere stiegen seit 2010 um mehr als 10 Euro pro Kopf.

Deim ist ein Mann für strikte Abläufe und für Zahlen, und doch kann er nur ungefähr beziffern, wie viele Hunde und Katzen es in Wien gibt. Das liegt auch daran, dass in Wien längst nicht alle Tiere mit einem Chip registriert werden müssen. Offiziell gibt es in der Bundeshauptstadt knapp 55.000 Hunde, die Zahl an Katzen wird auf 250.000 geschätzt. ›Wir gehen davon aus, dass jährlich um die 10.000 Haustiere in Wien sterben‹, sagt Deim. Wenn das passiert, gibt es im Wesentlichen drei Möglichkeiten. Ich kann mein Tier verbrennen lassen, ich kann es privat begraben oder in die Tierkörperverwertung geben. Knapp ein Drittel der Tiere landet im Tierkrematorium Simmering oder bei der Konkurrenz, zum Beispiel in Oberösterreich oder der Steiermark. Ein Teil verschwindet im eigenen Garten oder auf anderen Wegen. Der größte Anteil, circa 6.000 Hunde und 2.500 Katzen im Jahr, geht in die Tierkörperverwertung bei der EBS-Tierservice. Doch bei vielen Tierliebhabern ist das verpönt: ›Früher hätten die Leute Angst gehabt, dass man sie für verrückt halten würde, wenn sie ihren Hund verbrennen ließen‹, sagt Deim. ›Heute ist es eher so, dass die Menschen sagen: »Was denken denn die Nachbarn, wenn ich ihn in die Tierkörperverwertung gebe?«‹

Die Fahrerin

Jede Woche fährt Katharina Messinger zwischen 15 und 35 Mal los, um ein totes Tier in ihr Auto zu laden. Wenn das Ziel ihrer Fahrt eine Tierarztordination ist, dauert das 20 Minuten und ist schnell über die Bühne gebracht. Fährt Messinger zu einem Privathaushalt, ist das jedes Mal ein Einblick in ein Haus, ein Wohnzimmer, ein Leben. Und die Rolle, die das Tier, das da tot auf der Decke liegt, in diesem Leben hatte.

›Wenn ich in eine Wohnung komme, merk ich in zwei Minuten, was Sache ist‹, sagt Messinger. Sind mehrere Menschen dort? Stützen sie sich gegenseitig? Soll ich mich zurücknehmen, oder eher Fragen stellen, um das Schweigen zu brechen?

Messinger macht diesen Job seit drei Jahren. Sie spricht schnell, resolut und unemotional, wenn sie erzählt, was ihren Alltag ausmacht: sich anzuhören, was die Menschen zu erzählen haben, die Besitzer vorzubereiten, dass sie jetzt gleich mit einem Kartonsarg kommen wird. Oder fragen, ob man noch eine Decke mitgeben will. ›Ich frage mich immer: Was würde ich wollen, wenn das mein Hund wäre?‹, sagt Messinger. Sie selbst hat einen Hund und vier Katzen. Sie wolle das Schaurige aus den Begegnungen möglichst rausbringen. Und manchmal reiche es schon, ein Spielzeug in den Sarg zu legen.

Familien, Kinder, das sei alles nicht das größte Problem. Aber manchmal käme man zu älteren Frauen und würde sofort merken: Der Mann ist gestorben, die Kinder sind groß, die Enkel kümmern sich nicht richtig. Dann stirbt die Katze kurz vor Weihnachten. Und die Frau merkt: Jetzt bin ich ganz allein. ›Da weiß man: Da kommt jetzt eine schwierige Trauerphase auf die Frau zu‹, sagt Messinger. ›Ich krieg das natürlich mit. Aber helfen kann ich ja auch nicht.‹

Der Kremierer

Der Raum, in dem die zwei Kremieröfen stehen, lässt sich durch eine Glasscheibe beobachten. Die beiden Öfen sind von vorne etwa zwei mal zwei Meter groß und speziell für diesen Zweck angefertigt. Christian Wallner bedient sie seit 13 Jahren hauptberuflich. Klappe auf, Tier rein, Klappe zu. Am Ende geht dann alles ganz einfach. Um die 2.000 Mal passiert das in Simmering jedes Jahr.

Wallner ist gelernter Tapezierer und schon lange bei der EBS-Tierservice tätig. Zehn, zwölf Jahre lang war er Tierfahrer. Er holte tote Tiere ab und brachte sie in die Tierkörperverwertung. Später arbeitete er nur noch hier im Krematorium. Er macht den Terminplan, bedient die Öfen, empfängt die Kunden. ›Wenn ein Kunde kommt und drückt sich vorsichtig herum, dann merke ich schon: Die sind völlig fertig, da muss ich jetzt vorsichtig sein.‹ Wallner weiß, dass er es ist, der den Menschen letztlich das Tier wegnimmt. Im Aschenbecher auf seinem Schreibtisch brennt eine Zigarette vor sich hin, ein Foto zeigt zwei kleine Hunde, es waren seine. Mittlerweile sind sie gestorben. Wallner ließ sie kremieren. Er ist der einzige Mitarbeiter, der aktuell kein Tier mehr zuhause hat.

Wenn es soweit ist, wird das Tier aus der Kühlkammer geholt. Wenn der Kunde eine Aufbahrung gebucht hat, wird es noch einmal in den Raum, durch dessen Fensterscheibe man auf die Öfen blicken kann, geschoben. Die Menschen können sich verabschieden, musizieren, weinen. Für etwa 20 Minuten. Wallner ist für den Ablauf zuständig, was auch die unangenehme Aufgabe einschließt, auf den strikten Zeitplan zu achten.

Am Ende schiebt Wallner den Kartonsarg auf einer langen metallenen Liege zum Ofen. Steht jemand vor der Scheibe, dreht er die Liege zur Scheibe hin, um den Menschen zu zeigen, dass er da gerade auch wirklich ihr Tier verbrennt und nicht ein anderes. Und dann tut der Ofen seine Arbeit. Von einem Golden Retriever mit dreißig Kilogramm bleiben am Ende zwei Liter Asche mit Knochenstücken übrig. Wenn die Asche ausgekühlt ist, geht Wallner in ein Hinterzimmer, zieht einen Karton mit einer Urne heraus und verpackt die Asche darin. Das ist das einzige, was physisch bleibt.

Das Ende

Der Tag im Spätherbst, an dem Jessy ihre letzte Reise antritt, ist ein überraschend sonniger. Die Bäume werfen ihr letztes gelbes Laub in den Donaukanal, im Hintergrund brummen die Lastwagen.

Wer in das Tierkrematorium in Simmering kommt, muss an einer Waage vor- bei. Im Regal in der Raummitte stehen Urnen. Rechts an der Wand hängen Danksagungen von zufriedenen Kunden mit Fotos von glücklichen Hunden und Katzen, aus besseren Zeiten. Links ist der Raum, in dem Gespräche geführt, Menschen getröstet und Rechnungen ausgestellt werden. Die Gratwanderung eben.

Jessy hat fünf Kilo, die Kremierung dauert etwa anderthalb Stunden. 60 Prozent der Kunden können oder wollen bei der Einäscherung nicht dabei sein. Auch Martin Moser nicht. Was hätte das denn gebracht, fragt er. Er hat doch etliche Fotos von Jessy auf seinem Handy. Die Asche wird er sich abholen. Und eine Vitrine bauen, um einen Teil von Jessy bei sich zu haben. Seiner Jessy.