Der Steher

ERSCHIENEN IN DATUM 04/2020

Johannes Hahn wurde schon oft abgeschrieben, jetzt ist er in seiner dritten Amtszeit als EU-Kommissar. Wie hat er das geschafft?

Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, hat Hermann Hesse einmal geschrieben, doch das gilt nicht für Johannes Hahn. Der Kommissar ist gerade am Beginn seiner dritten Amtszeit in Brüssel, und jede davon begann mit einer großen Krise. 2009, als er Regionalkommissar wurde, traf die Finanzkrise Europa mit aller Kraft. 2014 wurde er Kommissar für Nachbarschaftspolitik, kurz darauf begann die Flüchtlingskrise. Seit Herbst 2019 ist er Budgetkommissar, und das Coronavirus setzt an, die Welt und Europa in eine Wirtschaftskrise zu stürzen, wie man sie noch nicht gesehen hat. Dafür kann Johannes Hahn nichts, aber wenn die EU es gut mit ihren Bürgern meint, sollte sie ihm vielleicht keinen Job mehr geben.

Johannes Hahn, seit seiner Jugend Gio genannt, war Politiker, Manager, Wissenschaftsminister in der Großen Koalition. Vor mittlerweile elf Jahren wurde der heute 62-Jährige Kommissar in Brüssel. Jetzt geht er in seine dritte Amtszeit, was bislang nur wenige geschafft haben, und ist mit dem Budgetressort noch einmal aufgestiegen. Trotzdem wird er zu Hause gern ein wenig belächelt. Hahn ist die graue Maus, der Apparatschik, der Phlegmatiker. Doch der Kommissar hat einen Weg gefunden, daraus einen Vorteil zu ziehen. Er hat schon so manchen, der ihn wegen seiner Art belächelt hat, überlebt.

Brüssel im Oktober 2019. Im Raum JAN 4Q2 im europäischen Parlament haben sich knapp 200 Abgeordnete zusammengefunden, um Johannes Hahn zu grillen. Es ist die Zeit der Hearings, bei denen sich die Kommissare in spe den kritischen Fragen der Fachausschüsse stellen müssen. In diesen Wochen lässt das Parlament die Muskeln spielen, und das merkt man auch am Setting. Der Raum wirkt wie ein flaches Amphitheater. Alle Augenpaare sind auf den Tisch in der Mitte gerichtet, wo Hahn, wie immer im grauen Anzug, ein wenig zusammengesunken und verloren sitzt.

„It’s kind of coming home for me“, sagt Hahn ins Mikrofon. „I remember my first time like it was yesterday“. Sein Englisch ist gut, er hat allerdings auch nach Jahren noch einen deutlichen Akzent. Hahn ist freundlich, er weiß, dass er hier heute wenig zu befürchten hat. In Brüssel mag man Hahn, weil er immer alle einbindet und man ihn für einen dieser überzeugten Europäer hält, was nach Jahren in Brüssel auch zweifelsfrei stimmt. Der Grill im Raum JAN 4Q2 wird deshalb auch nur auf halbe Stufe hochgefahren, die Fragen sind nicht übermäßig scharf. Vieles, was in Brüssel passiert, ist vorab bekannt, und Hahn steht nicht auf der Abschussliste.

Hahn darf seit Herbst noch ein drittes Mal der wichtigste Österreicher in Brüssel sein, zum „endgültig letzten Mal“, wie er sagt. Lange hatte es nicht so ausgeschaut, die schwarz-blaue Regierung hätte gerne jemanden anderen geschickt. Doch dann kam Ibiza. Der koalitionslose Nationalrat musste sich auf einen österreichischen Kandidaten einigen, und Hahn hatte den Vorteil, dass er einerseits bereits da war und man andererseits einfach so wenig gegen ihn sagen kann. Er wurde, als erster Österreicher in der Geschichte, einstimmig vom Nationalrat zum Kandidaten ernannt. In Wien ging danach das gemeine Bonmot um, Hahn sei einer der großen Gewinner der Ibiza-Affäre. Hahn lächelt und zuckt mit den Schultern, wenn man ihn danach fragt. Kommentieren will er sowas nicht, er kennt das Spiel um die Gerüchte in den Monaten vor der Bestellung der Kommission ja schon.

Im Boxsport gibt es verschiedene Taktiken, einen Kampf zu gewinnen. Es gibt die großen Tiere mit den wuchtigen Geraden, die jeden Gegner in der fünften Runde ausknocken können. Und es gibt die „Steher“: die Boxer, die so lange einstecken können, bis sich alle ihre Widersacher ausgepowert haben. Das macht einen nicht unbedingt zum Publikumsliebling, kann aber effektiv sein. Johannes Hahn ist ein Steher. Es gibt kein politisches Amt, das Hahn am Ende antritt, wo nicht vorher wochenlang spekuliert wird, wer es sonst bekommen könnte. 2009 sollten erst Wilhelm Molterer, dann erneut Benita Ferrero-Waldner in die Kommission. 2014 wurde lange spekuliert, dass der damals schon Ex-ÖVP-Chef Michael Spindelegger Kommissar werden könnte. Am Ende blieb Johannes Hahn als letzter im Ring stehen, wie so oft zuvor.

Für viele Politiker, die nach Brüssel kommen, ist erstmal alles neu. Aus den Mitgliedsstaaten heraus empfindet man Europa oft als Black Box, beschäftigt sich wenig mit den Abläufen. „Die wichtigste Lektion war zu begreifen: Ich vertrete jetzt 500 Millionen Menschen“, sagt Hahn. „Das hat ja niemand hier in Brüssel in die Wiege gelegt bekommen.“ Hahn lernt schnell, nach zehn Jahren gehört er fast schon zum Inventar. In der aktuellen Kommission sei er für die Neuen ein wenig wie ein Betriebsrat, sagt jemand, der es wissen muss. Es gibt kaum jemanden, der wirklich etwas Schlechtes über ihn sagen will, auch nicht außerhalb der eigenen Parteienfamilie. Monika Vana, Delegationsleiterin der Grünen, lobt seine „Sachorientiertheit“ ; auch Andreas Schieder von der SPÖ, der mit Hahn schon im Wiener Gemeinderat saß, hat nur gute Worte für ihn übrig.

Hahn kann auf eine Reihe von Erfolgen zurückblicken: Während der Wirtschaftskrise war er als Regionalkommissar damit beschäftigt sicherzustellen, dass Griechenland ökonomisch nicht auseinanderfällt („Ich war zwei Jahre lang der einzige Kommissar, der nach Griechenland gereist ist“). Er trug entscheidend dazu bei, den jahrelangen Streit um den Namen Nordmazedoniens zu lösen („Das nehme ich schon für mich in Anspruch, da ordentlich mitgeholfen zu haben“) und den Westbalkan an die EU heranzuführen.

Über Johannes Hahn sagt man unter anderem, ihm seien früher die Freundinnen weggelaufen, weil er zu ruhig gewesen sei. Gegenüber der Zeit kommentierte er das einmal mit dem Hinweis, „so viele Freundinnen“ seien das gar nicht gewesen. Ein klassischer Hahn-Satz. Der Kommissar bleibt nach außen stets ruhig, und das ist nicht nur gespielt. „Gelassenheit“ ist ein Wort, das immer wieder fällt, wenn man mit Menschen redet, die ihn länger kennen. Das hat auch biografische Gründe: Hahn wurde mit bereits in jungen Jahren mit einer Krebsdiagnose konfrontiert, das rückt Dinge in die Perspektive.

Hahn kann aber auch überraschend hart sein, wenn er will und muss. In der Schweiz stöhnten sie, als er als zuständiger Kommissar für Nachbarschaftspolitik in der Frage der „Bilateralen“,also der Verträge zwischen der Schweiz und der EU, knallhart blieb. Das hatten die Schweizer so nicht erwartet. „Man hat mich im Leben immer unterschätzt“, sagt Hahn und lächelt dabei. Er hat gelernt, davon zu profitieren.

Brüssel im Dezember 2019. Im 13. Stock des Berlaymont-Gebäudes, dem Sitz der Kommission, hat Budgetkommissar Hahn eine Runde von österreichischen Journalisten zu Gast. Diese Arbeitsessen gibt es in Brüssel häufig, und wie für alles gibt es auch dafür informelle Regeln: Der kurze Vortrag ist on the records, die Fragerunde danach darf nicht zitiert werden. Hahn redet eine halbe Stunde über die Budgetverhandlungen. Er wechselt dabei kein einziges Mal den Tonfall und sagt eine Menge von Johannes-Hahn-Sätzen. „Wenn das Level an Unglücklichsein annähernd gleich verteilt ist, kann man annehmen, dass man auf der richtigen Spur ist“ zum Beispiel. Hahn kennt die Gegebenheiten in Brüssel mittlerweile sehr gut, bewegt sich dort vielleicht fast ein bisschen sicherer als auf dem österreichischen Parkett. Als er im Jahr 2017 in Wien Gast bei einer Parlamentarischen Enquete des Bundesrats zum Thema Die Zukunft der EU – aus Sicht der Bundesländer und Regionen ist, verweist er die anwesenden Vertreter der Länder beim Rausgehen („Ich habe mich deswegen zwischendurch zu Wort gemeldet, da in weniger als einer Stunde mein Flieger geht“) auf den Ausschuss der Regionen und erklärt freundlich, es könne nicht sein, dass „bei Themen, bei denen man der Meinung ist, sie sollen auf europäischer Ebene behandelt werden, alle immer mitsprechen“. Das war nicht böse gemeint, der Kommissar hatte wahrscheinlich auch Recht, es kam aber nicht bei allen gut an.

Johannes Hahn wird 1957 in Wien geboren, sein Vater besitzt einen Reifenhandel. Er besucht bürgerliche Gymnasien, landet schließlich bei der Jungen ÖVP. Dort macht er erstmal eine klassische Parteikarriere: Bezirksobmann der JVP Mariahilf, später Landesobmann der JVP Wien. Irgendwann stockt der politische Aufstieg. Hahn wechselt in die Industrie, arbeitet für die Vereinigung Österreichischer Industrieller, die VA Tech, ist später einige Jahre bei Novomatic. 1992 kehrt er in die Politik zurück, zuerst im Nebenberuf. Er wird Landesgeschäftsführer der Wiener ÖVP, zieht in den Gemeinderat ein, wird Chef der Wiener ÖVP und nicht-amtsführender Stadtrat. 2005 ist er, den man gern zum liberalen Flügel der ÖVP zählt, Spitzenkandidat und fährt bei der Gemeinderatswahl mit 18,77 Prozent ein leichtes Plus ein.

Im Kabinett Gusenbauer wird Hahn Wissenschaftsminister. Es sind drei turbulente Jahre, in denen er, vor allem gegen Ende, nicht immer glücklich agiert. Die Unibrennt-Proteste ignoriert er lange, wahrscheinlich zu lange. Er ist dabei in der Politik alles andere als allein, macht sich damit aber unbeliebt. Währenddessen hängt mehrere Jahre der Schatten eines Plagiatsverfahrens wegen seiner Doktorarbeit in Philosophie über ihm. Die Agentur für wissenschaftliche Integrität kommt 2011 zum Schluss, dass Hahns Dissertation „in weiten Teilen bei Zugrundelegung heutiger allgemein anerkannter Standards nicht den Prinzipien guter wissenschaftlicher Praxis“ entspreche, aber klein Plagiat sei. Hahn darf seinen Doktortitel behalten.

2009 geht er als Regionalkommissar nach Brüssel, 2014 wird er zuständig für Nachbarschaftspolitik, ein extrem reiseintensives Ressort. In Brüssel erzählt man, Hahn wäre oft zweieinhalb Wochen am Stück unterwegs gewesen. Das ist anstrengend. Allerdings ist es für Hahn kein komplettes Neuland: Es gibt Geschichten von ihm, wie er – als Manager bei einem Konzern, der viel im Nahen Osten und Afrika tätig ist -Ende der 80er mit dem Rollkoffer die libysch-tunesische Grenze passiert. Man kann sich irgendwie gut vorstellen, wie Johannes Hahn auch das pragmatisch angeht, wahrscheinlich damals schon im grauen Anzug.

Als Kommissar ist Hahn auch für die Antwort der EU auf die Krisen in Syrien und Libyen verantwortlich, reist nach Jordanien, in den Libanon, nach Tripolis. Das klingt wohl alles ein bisschen spektakulärer, als es ist. Als Kommissar für Nachbarschaftspolitik lernt man auch die Grenzen europäischer Politik schnell kennen. Im Nahen Osten empfängt jeder Politiker Hahn, aber sie wissen auch, dass die außenpolitischen Entscheidungen letztlich nicht in Brüssel, sondern in Berlin, Rom und Paris getroffen werden.

So blockiert der französische Präsident Emmanuel Macron im November 2019 etwa die Beitrittsverhandlungen für Albanien und Nordmazedonien, eines der großen Projekte Hahns in den letzten Jahren. „Professionell muss man das wegstecken, persönlich hätte ich mir da natürlich einen Erfolg noch während meiner Amtsperiode gewünscht“, sagt Hahn. Zehn Tage nach dem Interview wird klar: Es wird wahrscheinlich ein besseres Ende geben, unter den 27 EU-Staaten gibt es keinen Widerstand mehr gegen die Beitrittsgespräche. „Wenn es letzten Endes dieses Jahr passiert, kann ich mit Recht sagen, an dieser Entscheidung wesentlich mitgewirkt zu haben“, reicht Hahn per E-Mail im Zuge der Autorisierung seines Interviews für DATUM nach.

Wien im März 2020. Johannes Hahn spaziert an einem späten Freitagabend durch das leere Haus der Europäischen Union. Hahn – der nun nicht nur Budgetkommissar ist, sondern auch der Verwaltung der Kommission vorsteht – hat ein paar Tage zuvor 6.000 Beamte in die Telefonarbeit geschickt. Es ist die Woche, in der die Coronakrise auch in Österreich real wird. Türgriffe fasst Hahn jetzt nur noch mit einem Taschentuch an. Redet man mit dem Kommissar über sein neues Ressort, merkt man, dass es ihm Spaß macht. Nicht nur, weil die Reisen kürzer geworden sind („Der März könnte der erste Monat seit zehn Jahren sein, in dem ich keine Nacht in einem Hotel schlafe“), sondern weil ihn der Verwaltungsteil fasziniert. „Ich wollte immer in großen Strukturen arbeiten“, sagt Hahn. „Ob Partei, Politik oder Unternehmensgruppe: Mich hat immer nur die Exekutive interessiert.“ Hahn ist im Grunde immer ein politischer Manager geblieben. Vielleicht ist das auch ein Teil des Geheimnisses, warum er als Kommissar funktioniert: Dass er lieber vermittelt, Dinge in Bahnen lenkt, als sie bis ins letzte Detail auszugestalten.

Dieses Vermittlungsgeschick wird Johannes Hahn auch jetzt wieder brauchen. Die EU-Institutionen verhandeln aktuell gerade ihren neuen Mehrjährigen Finanzrahmen (MFR): Grob gesagt, gibt sich die EU alle sieben Jahre ein Budget, in dem vorgegeben wird, was sie ausgeben wird und wer das bezahlen soll. Es ist die Zeit des Hauens und Stechens, in der unrasierte Staatschefs nach nächtelangen Verhandlungsrunden vor die Presse treten. In solchen Zeiten ist die EU kein Friedensprojekt, sondern es geht knallhart um die Marie. Die Verhandlungen für die Jahre 2021-2027 sind noch einmal härter als sonst, weil mit den Briten ein Nettozahler weggefallen ist, das Europäische Parlament Stärke zeigen muss und die Mitgliedsstaaten möglichst wenig zusätzlich einzahlen wollen. Und das sind nur die Einschätzungen, bevor Corona alles verkomplizierte. „Am Weg zum MFR spielt die Kommission nur eine Nebenrolle“, sagt jemand, der sich mit den Vorgängen in Europa auskennt. Einen verhandlungserfahrenen Budgetkommissar zur Vermittlung zu haben, schadet aber sicher nicht.

Was macht Johannes Hahn aus? Warum funktioniert er in Europa wahrscheinlich besser, als er es in der österreichischen Politik getan hat? „Als ich nach Brüssel gegangen bin, hatte ich bereits Erfahrung darin, Strukturen mit tausenden Mitarbeitern zu führen“, sagt Hahn und meint: zusätzlich zu seiner langjährigen politischen Erfahrung. Und er habe das Gefühl, dass ihm seine österreichische Herkunft durchaus weiterhilft. „Wir verstehen die Nordeuropäer, sind seit Jahrzehnten ins westeuropäische Wertesystem eingebunden, seit Jahrhunderten im Osten aktiv und haben etwas Mediterranes an uns.“

Vielleicht ist es auch so, dass Menschen wie Hahn – ein bisschen langweilig, ein bisschen sachorientiert, rhetorisch unspektakulär – generell besser nach Brüssel passen als in die nationalstaatliche Arena. Die Notwendigkeit zur Selbstinszenierung, wie sie Minister in den Mitgliedsstaaten allein aus Karrieregründen praktizieren müssen, besteht auf EU-Ebene weniger. Oder besser noch: Man darf sich auch ein wenig als Bürokrat und Arbeiter inszenieren, weil Bürokraten und Arbeiter hier geschätzt werden.

Die EU hat zwei Gesichter: Sie ist ein riesiges, politisch-technokratisches Gebilde, mit knapp 50.000 Beamten und irrsinnig komplizierten Entscheidungswegen. Sie ist aber auch ein Zukunftsprojekt, das selten ohne eine Portion Pathos und Kitsch auskommt. Hahn ist immer dann gut, wenn es um den ersten Teil geht. Wenn es ins Gefühlige geht, wirkt er schnell ungelenk, so wie er auch in seinen Reden gern ins Formelhafte und Schwammige kippt. Bei seinem Hearing verspricht Hahn, in die Mitgliedsstaaten zu fahren und dort bei den Bürgern um mehr Geld zu werben. Welcher Bürger hätte nicht darauf gewartet?

Man würde gerne wissen, ob Johannes Hahn ein Problem mit seinem Image hat. Aber um darüber Aufschluss zu geben, ist der Kommissar zu sehr Profi. Von Fragen wie „Sind Sie eine graue Maus, Herr Hahn?“, lässt er sich nicht aus der Reserve locken. Der Kommissar zuckt dann leicht mit den Schultern, wie er es immer gerne tut, wenn eine Frage kommt, die er erwartet hat, von der ihm aber lieber wäre, man hätte sie nicht gestellt. Und sagt wieder so einen typischen Johannes-Hahn-Satz: „Graue Eminenz wäre mir lieber“.