Im Schatten der Giganten

ERSCHIENEN IN Fleisch Winter 2019

Oasis war einmal die größte Band der Welt, und ihr Zentrum war das Brüderpaar Gallagher. Doch ohne die anderen Mitglieder wäre das alles nicht möglich gewesen. Wer waren sie?

Als James Vellacott die 90er in ein Foto gießt, braucht er festes Schuhwerk. Es ist August 1996 und der Fotograf des Daily Mirror steht auf einem Feld in der Nähe von Knebworth House, einem Landhaus irgendwo zwischen London und Cambridge, und drückt auf den Auslöser. Vor seiner Linse stehen fünf schlaksige Männer im Alter von Mitte bis Ende 20. Sie sehen genauso aus, wie Engländer aussehen müssen, heißt: furchtbar gekleidet und mit entweder viel zu viel oder bereits viel zu wenig Haaren ausgestattet. Nichtsdestotrotz schauen sie genauso historisch drein, wie man in so einem Moment wohl aussehen muss. Denn, ja, es ist verdammt historisch gerade.

Die Herrschaften vor Vellacott kennt man unter dem Namen Oasis, und an diesem Wochenende spielen sie auf dem Feld bei Knebworth vor jeweils 125.000 Menschen. Zwei Tage hintereinander. Der Auftritt gilt bis heute als eines der größten Konzertereignisse aller Zeiten. Insgesamt hatten sich 2,5 Millionen Menschen für die Tickets beworben, 7.000 Menschen standen auf der Gästeliste, um knapp ein Jahr nach dem Release von „(What’s The Story) Morning Glory?“, mitten in der Hochphase des Britpop, die zu diesem Zeitpunkt größte Band der Welt zu hören. In England sagen manche Menschen dazu noch heute „The day Oasis ruled the world“. Und das einzige Falsche daran ist, dass es eigentlich zwei Tage waren.

Oasis, das war immer mehr als nur der manchmal rumpelige, emotional ausladende Rock’n’Roll-Sound. Oasis war vor allem das ungleiche Brüderpaar Liam und Noel Gallagher und sie standen für den ewigen Gegensatz jeder großen Band wie kaum ein anderes Paar der Popgeschichte: Hier der Sänger, da der Songschreiber; hier das Herz, dort das Hirn. Wer von Oasis sprach, der meinte eigentlich die Gallaghers, die beiden Brüder, die durch die Musik- und Klatschgazetten jagten, sich öffentlich prügelten, zerfetzten und versöhnten. Wie Zwillingssonnen umkreisten sie einander im Mittelpunkt des Oasis-Universums und erzeugten dadurch genug Gravitation, um die Band bei aller inneren Reibung 18 Jahre lang bestehen zu lassen.

Doch die Band bestand natürlich nicht nur aus den Gallaghers. Insgesamt neun andere Musiker standen über die Jahre mit den beiden auf der Bühne und in ihrem Schatten. Wer waren sie? Wie lebt es sich zwischen zwei Giganten, die immer wieder aneinandergeraten? Und wie stellt man sicher, dass man nicht zertrampelt wird?

Die Geschichte von Oasis ist eine Geschichte von Männern, die zum Zeitpunkt X Teil der Band und zum Zeitpunkt Y wieder ausgespuckt werden. Die Spanne zwischen X und Y war von unterschiedlicher Länge, Tiefe und Relevanz. Drummer Chris Sharrock trat der Band 2008 bei, ein Jahr bevor sich Oasis endgültig auflösten. Und die Geschichte des Kurzzeit-Bassisten Scott McLeod ist fast tragisch: McLeod schmiss auf seiner ersten Tour nach einem Konzert in Pittsburgh hin und stieg in ein Flugzeug nach England, weil er Heimweh hatte. Wochen später rief er – so geht die Legende – Noel Gallagher an und bezeichnete seine Entscheidung als falsch. „Das denke ich auch“, antwortete Gallagher. „Viel Erfolg in der Arbeitslosigkeit.“

Wenn man Oasis-Fans fragt, dann verstehen sie unter Oasis meist die Bandbesetzung aus den mittleren neunziger Jahren, aus der Hochphase der Band. Diese Truppe ist auch auf den Fotos in Knebworth zu sehen. Neben dem berühmten, alles überstrahlenden Brüderpaar stehen Drummer Alan White, Bassist Paul „Guigsy“ McGuigan und Gitarrist Paul „Bonehead“ Arthurs. Sie sind „die Anderen“, die ein Nachtklubbesitzer einmal die „Tailgunners“ der Band nannte. In alten Militärflugzeugen saßen die Tailgunners hinten und deckten den Rückraum. In der deutschen Luftwaffe wurden sie „Heckschweine“ genannt, was ihre Rolle besser zur Geltung bringt: Ruhm war nicht zu erwarten, aber ohne sie geht schnell mal alles dem Abgrund entgegen. Alle Bands haben ihre Ringo Starrs, ihre John Entwistles, die stillen Mitglieder, die ein Gegengewicht zu den massiven Frontmännern bilden. Eine schöne Pointe der Rock’n’Roll-Geschichte ist dann auch, dass der Sohn von Ringo Starr, Zak Starkey, von 2004 bis 2008 eher unbekannter Schlagzeuger von Oasis war.

Was viele nicht wissen: Genau genommen war bei der Gründung der Keimzelle von Oasis kein Gallagher beteiligt. Die Freunde McGuigan und Arthurs spielten gemeinsam mit Tony McCarroll (bis 1995 Drummer bei Oasis) und einem Sänger, dessen Namen man sich nicht merken muss, in einer Band namens „Rain“. 1991 ersetzten sie den Sänger durch Liam, der seinen Bruder Noel mitbrachte.

Arthurs war zu dem Zeitpunkt der Songschreiber der Band, trat aber zugunsten von Noel in die zweite Reihe. Dort verblieben er und sein Freund McGuigan dann auch bis zum Jahr 1999, als sie die Band verließen. Sie kannten ihre Aufgabe: die Basis zu bilden, auf der die Gallaghers scheinen konnten. Bei Konzerten standen sie am hinteren Rand der Bühne, bewegten sich kaum und drehten dem Publikum nach jedem Song den Rücken zu, um ihre Instrumente zu stimmen. Ein englischer Musikkritiker beschrieb die beiden einmal als nicht besonders talentiert und „the luckiest men in pop“. Als McGuigan in einem Interview damit konfrontiert wurde, bezeichnete er das als „faire Einschätzung“.

Alle Oasis-Backgroundmitglieder hatten ihre Rollen und Wege, um mit der explosiven
Stimmung umzugehen. Alan White war der „Southerner“ unter den „Boys from
Manchester“, Liams bester Freund und Trinkpartner. Arthurs war das lustige Maskottchen und der Schlichter, wenn es zwischen den Gallaghers wieder mal zum Showdown
kam. McGuigan redete nicht viel, rauchte Unmengen an Gras und bekam nervöse Zusammenbrüche.

Das ging ein paar Jahren gut, forderte aber irgendwann Tribut. Die Aufnahmen zu „Standing On The Shoulder Of Giants“, dem vierten Album, markierten im Jahr 1999 das Ende der Band, wie man sie kannte. Die Stimmung war extrem geladen, auch weil Noel Gallagher ein Trinkverbot ausgesprochen hatte, um seinen Bruder unter Kontrolle zu halten. Arthurs und McGuigan verließen die Band, angeblich zerstörte Ersterer dabei eine Tür, als er sich an einem Tag nicht an das Trinkverbot hielt. Noel zeigte sich auf seine unverwechselbare Art unbeeindruckt („Es ist nicht so, als hätte gerade Paul McCartney die Beatles verlassen“), versuchte aber trotzdem beide umzustimmen. Vergeblich.

Ab dem Zeitpunkt waren die letzten offiziellen Oasis-Gründungsmitglieder neben den Brüdern nicht mehr Teil von Oasis. Ersetzt wurden sie durch Gem Archer und Andy Bell, die beide bis zum Bruch im Jahr 2009 Teil der Band bleiben sollten. Es war eine andere Phase: Weniger wild, aber auch weniger diktatorisch und explosiv. Noel Gallagher ließ mehr Songwriting-Input der anderen Bandmitglieder zu. Oasis war weiterhin erfolgreich. Aber es war auch alles ein bisschen weniger magisch.

Oasis ist heute Geschichte, und die Bandmitglieder haben nach ihrem Ausstieg in unterschiedlichem Ausmaß ihren Frieden damit gemacht. Gründungsmitglied McCarroll klagte die Band im Jahr 1999 und verzichtete im Zuge eines Vergleichs für eine halbe Million Pfund auf alle Rechte an zukünftigen Tantiemen, was die Sun zur Schlagzeile „Is this the most stupid man in Showbiz?“ inspirierte. Heute kann er in Interviews darüber lachen.

Gitarrist Arthurs spielt noch heute immer wieder gemeinsam mit Liam Gallagher Live- Auftritte. Alan White ist komplett aus der Öffentlichkeit verschwunden, ebenso wie McGuigan, der nicht mal für die große Doku „Oasis: Supersonic“, die im Jahr 2016 erschien, zu einem Interview bereit war. Noel Gallagher gab in Interviews immer wieder zu Protokoll, keine negativen Gefühle gegenüber den beiden ausgestiegenen Gründungsmitgliedern zu haben. Gesehen habe man sich aber seit dem Bruch nie mehr.

Die „Tailgunners“ der ehemals größten Band der Welt haben die beiden ehemals größten Frontmänner der Welt über Jahre ertragen, lebten mit ihren Launen und in ihrem Schatten. Die Gallaghers entledigten sich enger Mitarbeiter, seien es Bodyguards, Drummer oder Manager, wann immer es nicht mehr passte. Aber man darf auch nicht vergessen, wo jeder, der bei Oasis einmal ein Instrument in die Hand nahm, herkam. Sie waren im Manchester der 70er- und 80er-Jahre groß geworden, arbeiteten zuvor als Maurer oder in Autowaschanlagen. Oasis gab ihnen die Möglichkeit, in wenigen Jahren Millionen zu machen, Models zu heiraten und sich und ihren Familien teure Häuser zu kaufen. Da kann man schon mal ein paar Jahre zwischen gefährlichen Giganten leben und den Kopf einziehen, wenn diese gerade wieder mal randalieren.

Die Band um das ungleiche Brüderpaar, das sich noch heute über die Presse und Twitter bekriegt, wäre ohne die stillen Männer im Hintergrund nicht möglich gewesen. Sie haben ihren Anteil daran, dass Oasis der Welt mindestens zwei zeitlose Alben hinterlassen konnte. Und zumindest ein paar Jahre voller Momente der Magie. Wie der im August 1996, irgendwo zwischen London und Cambridge, als jemand da war, um auf den Auslöser zu drücken. „Ich hab immer gesagt, wir hätten nach der zweiten Nacht in Knebworth aufhören sollen“, sagt Paul Arthurs heute.